Selbstbewusste Türkei nützt EU-Reform für Stärkung

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Trotz der stockenden EU-Verhandlungen halten die regierende AK-Partei ebenso wie türkische Wirtschaftsvertreter am EU-Kurs des Landes fest. "Wir glauben, dass die Reformen nicht nur für den Weg zur EU wichtig sind, sondern für die Türkei selbst", sagte Hüseyin Celik, Vizevorsitzender der regierenden AK-Partei vor österreichischen Vertretern des Verbandes Europäischer Journalisten (AEJ) in Ankara.

Die EU-Vorgaben seien dabei hilfreich, denn - wie beim Abnehmen - gehe es mit einer Liste leichter, wenn man genau wisse, was zu tun ist. Bei einem Scheitern eines Beitritts könnten allerdings die Beziehungen zur EU "gelockert werden", heißt es in der türkischen Hauptstadt.

Politisch gesehen gibt es "keine Alternative zum EU-Prozess", auch nicht die neue Orientierung Richtung Osten, betonte auch Ekrem Eddy Güzeldere, politischer Analyst beim European Stability Institut (ESI) in Istanbul. Ökonomisch würde sich durch einen Beitritt wenig verändern, weil die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der EU und der Türkei durch die 1996 gestartete Zollunion bereits sehr eng geworden sind. 60 % der türkischen Exporte gehen in die EU. "Eine privilegierte Partnerschaft haben sie schon", sagt Güzeldere.

Der wirtschaftliche Aufstieg der Türkei - immerhin ist das 73 Mio.-Land in den vergangenen acht Jahren von Platz 50 auf Platz 15 der größten Volkswirtschaften der Welt aufgerückt - stärkt auch das Selbstbewusstsein der türkischen Wirtschaftsvertreter. Es wäre gar nicht schlimm, wenn die Türkei am Ende nicht beitreten würde, sagt etwa Cengiz Simsek, Chef der Industriezone von Gaziantep, einer boomenden 1,36 Mio. Einwohner zählenden Stadt kaum 50 km von der syrischen Grenze entfernt.

Die Türkei strebe vor allem wegen der führenden Position der EU in Wirtschaft und Technologie nach Europa. Die Türkei habe bei Ausbildung und Infrastruktur aber massiv aufgeholt: "Wenn sich das alles entwickelt, dann brauchen wir die EU gar nicht".

Cafer Sait Okray, einer der Vorsitzenden des DEIK, eines Zusammenschlusses verschiedener Unternehmerverbände zur Förderung der wirtschaftlichen Außenbeziehungen, sieht ein Nein am Ende ebenfalls gelassen. Mit dem kleinen Hinweis, dass gerade in Sachen Energie schließlich nicht die Türkei von Europa abhänge, sondern umgekehrt.

Kritischer sieht man die zähen Verhandlungen im vor etwa 3 Monaten gegründeten Institut für Strategisches Denken in Ankara. Nuzhet Kandemir, ehemaliger Botschafter und Mitglied des Vorstandes, kann keinen Grund erkennen, warum die Türkei nicht schon längst in der EU ist. "Die Zeit ist nicht reif, sondern überreif. Ein Beitritt heute ist schon zu spät", sagte er.

"Die EU misst mit zweierlei Maß", ärgert sich Naik Alkan, Politologe an der Gazi-Universität in Ankara und ebenfalls Mitglied des Instituts. Die Türkei warte seit 50 Jahren und immer werde gefordert, sie müsse ihre Probleme lösen, bevor sie Mitglied werden kann. Viele Mitgliedstaaten hätten ihre Probleme dagegen immer noch. Bei einem Nein würde sich an der türkischen Haltung nicht viel ändern, heißt es, allerdings würden die Beziehungen zur EU "lockerer werden".

Tibor Varadi, Stellvertretender Leiter der Delegation der EU-Kommission in Ankara weist diesen Vorwurf zurück: Die Türkei habe die Standards mit dem Verhandlungsrahmen akzeptiert. Der EU-Annäherungsprozess habe bereits zu "bedeutenden Veränderungen in der türkischen Politik und Gesellschaft geführt.

"Jetzt nähern wir uns der Phase, die an den Strukturen der türkischen Gesellschaft rührt", sagte Varadi. Wann und ob es am Ende zu einem Beitritt kommt, werde von der Bereitschaft der Türkei abhängen, in diese finale Phase einzusteigen. Grundsätzlich habe er aber den Eindruck, "dass die Gesellschaft bereit ist zu Änderungen" und akzeptiert, dass die EU-Vorgaben helfen, das Land zu modernisieren.

Die EU hat nach wie vor nur elf der 35 Verhandlungskapitel mit der Türkei geöffnet und eines davon abgeschlossen. Acht Kapitel sind wegen der Blockade der See- und Flughäfen für Schiffe und Flugzeuge aus Zypern auf Eis, doch auch bei anderen gibt es Widerstand - etwa aus Frankreich oder Zypern. Daher laufen die Verhandlungen derzeit nur schleppend, auch wenn die Türkei mit Europaminister Egemen Bagis seit Jahresbeginn erstmals einen "Full time"-EU-Verhandler hat.

Die Lösung des Zypern-Problems "wird nicht leicht", glaubt Burak Erdenir, amtierender Leiter des Generalsekretariats für EU-Angelegenheiten, das die konkreten Gespräche mit Brüssel führt. Seit dem EU-Beitritt Zyperns fehlten die Lock- und Druckmittel auf den griechischen Teil der Insel im Süden.

"Mit 1. Mai 2004 war das Spiel aus". Die Strafe für die Ablehnung des Annan-Plans für Zypern zahle nun der türkische Norden der Insel. Die Türkei will jedenfalls keinen Schritt mehr setzen, wenn nicht gleichzeitig ein Ende der Isolierung von Nordzypern kommt. Rein wirtschaftlich geht es nach Ansicht von Experten bei der Öffnung der Häfen um wenig - "politisch-praktisch" wäre eine Einigung aber gut.

Für die besonders Türkei-skeptischen Länder - Deutschland, Frankreich, die Niederlande, Dänemark und Österreich - plant die Türkei eine spezielle Kampagne, um gegen die vielen Wissensdefizite und Missverständnisse vorzugehen. So sind etwa nach Ansicht der türkischen Wirtschaftsvertreter die Ängste vor einem Massenansturm auf den EU-Arbeitsmarkt unberechtigt. Im Gegenteil: Es habe zuletzt schon einen Trend in die Gegenrichtung gegen , insbesondere aus Deutschland gebe es Heimkehrer. Dazu komme illegale Einwanderung aus der Ukraine, Moldawien, Armenien oder Rumänien.

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