Bestätigung durch Gattin Alice: "Friedlich im Kreis seiner Familie entschlafen."
Sein Reich war die musikalische Vergangenheit, die er für die Istzeit in neuem, bis dato ungekanntem Licht erstrahlen ließ, was Generationen von Dirigenten nach ihm beeinflusste: Nikolaus Harnoncourt. Nachdem er im vergangenen Dezember für die Öffentlichkeit überraschend seinen Rückzug vom Pult erklärt hatte, ist der Musikdeuter am Samstag nach schwerer Krankheit im Alter von 86 Jahren verstorben.
Ein großer Österreicher
Mit seinem Tod verliert Österreich eines seiner prominentesten Aushängeschildern der heimischen Musikkultur, das Klassikpublikum einen der engagiertesten Vermittler von Werk und Umfeld und der von Harnoncourt gegründete Concentus Musicus endgültig seine Leitfigur. Sein stechender Blick Richtung Musiker, seine stets ebenso kenntnisreichen wie humorvollen Einführungsworte ins Auditorium und seine bildreiche Sprache, mit der er ganze Bücherregale füllte, werden fehlen.
Mit Neugier und Enthusiasmus hatte der Musiker sich praktisch von Beginn seiner Laufbahn an geweigert, ausgetretene Pfade ungeprüft zu beschreiten und stattdessen das Quellenstudium und die Verwendung von Originalklanginstrumenten propagiert. "Musik als Klangrede" lautete dabei das große Credo. Diese Revolution der Aufführungspraxis, der Aufstieg der Originalklangbewegung sind nicht zuletzt das Verdienst des umtriebigen Suchers, dessen missionarischer Eifer bis ins hohe Alter ungebremst blieb. "Repertoire ist für mich geradezu ein Horror. Ich meine, dass man durch das Immer-wieder-Spielen derselben Werke diese vollkommen degradiert", hatte er noch vor wenigen Jahren postuliert.
"Es gibt ein Ablaufdatum bei mir"
Der Endlichkeit der eigenen Kräfte war sich der Musiker dabei stets bewusst, hatte er doch bereits vor seinem 80er launig versichert: "Es gibt ein Ablaufdatum bei mir. Natürlich plane ich - aber ich warne jeden, der mit mir etwas plant." In Folge häuften sich zwar die gesundheitlich bedingten Absagen, dennoch konnte Harnoncourt zuletzt noch viele Pläne verwirklichen, darunter etwa einen konzertanten Da-Ponte-Zyklus im Theater an der Wien oder Jacques Offenbachs "Ritter Blaubart" und Henry Purcells "Fairy Queen" bei seinem Hausfestival, der styriarte. Gleichsam zum Abschied wurde retrospektiv betrachtet, nun das noch von ihm geplante Festkonzert zum zehnjährigen Bestehen des Theaters an der Wien als Opernhaus Mitte Jänner, wo sich Harnoncourt nur mehr mittels Videobotschaft an sein Publikum wenden konnte. "Ich wünsche Ihnen keinen schönen, sondern einen aufwühlenden Abend", hatte er den Besuchern damals gewünscht - gleichsam ein Motto für Harnoncourts grundsätzliches Musikverständnis.
Musikerneuerer
Geboren wurde Nikolaus Harnoncourt als Johann Nicolaus de la Fontaine und d'Harnoncourt-Unverzagt am 6. Dezember 1929 in Berlin in luxemburgisch-lothringischen Hochadel. Aufgewachsen ist der spätere Musikerneuerer, ein Ururenkel Erzherzog Johanns, allerdings in Graz, wohin seine Familie 1931 zurückgekehrt war. Von 1945 an erhielt er Cello-Unterricht. 1949 gründete Harnoncourt gemeinsam mit Eduard Melkus, Alfred Altenburger und seiner späteren Frau Alice Hoffelner das Wiener Gamben-Quartett und wandte sich in der Folge der Erforschung von Spielweise und Klang alter Instrumente zu. Drei Jahre später wurde er Cellist der Wiener Symphoniker. Diesen Beruf übte er bis 1969 aus.
1953 wurde zu einem prägenden Jahr für den aufstrebenden Klassikstar. Zum einen heiratete er Hoffelner, mit der er vier Kinder haben sollte, darunter die Mezzosopranistin Elisabeth von Magnus und der Regisseur Philipp Harnoncourt. Und im Herbst desselben Jahres erfolgte die Gründung des Concentus Musicus Wien, mit dem eine neue Ära der Musikinterpretation eingeleitet wurde. Neben Konzerten und Plattenaufnahmen mit seinem eigenen Ensemble begann Harnoncourt 1972 auch zu dirigieren.
1975 startete die langjährige Zusammenarbeit mit dem Amsterdamer Concertgebouw Orchester. 1983 debütierte er am Dirigentenpult der Wiener Symphoniker, 1984 bei den Wiener Philharmonikern, 1987 (mit "Idomeneo") an der Wiener Staatsoper und 1992 bei den Salzburger Festspielen. Beim 1985 gegründeten steirischen Klassikfestival styriarte fungierte er von Anfang an als Aushängeschild. 2001 und 2003 dirigierte er das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker.
Dabei blieb der rastlose und hochdekorierte Dirigent, der u.a. mit dem Polar-Musikpreis, dem Kyoto-Preis und dem Ernst von Siemens Musikpreis ausgezeichnet wurde, nicht beim barocken Repertoire stehen, sondern erweiterte seinen Horizont über die Jahre. Zuletzt dirigierte er Händel und Monteverdi, Bach und Mozart ebenso selbstverständlich wie Berg, Offenbach, Gershwin und Strawinski. Wer diesen allumfassenden Platz in der Musiklandschaft dereinst wieder besetzen könnte, ist vollkommen offen.
Ära zu Ende
"Eine Ära ist zu Ende gegangen", sagte Musikvereins-Intendant Thomas Angyan tief erschüttert in einem Telefonat mit der APA. "Ich hätte nie erwartet, dass zwischen seinem Rückzug aus dem Konzertleben und seinem Ableben so eine kurze Zeitspanne liegen würde. Harnoncourt sei "das Original des Originalklangs" gewesen: "Das ist unwiederbringlich. Wir haben die Verpflichtung, das musikalische Erbe, das er uns hinterlassen hat, weiterzuführen."
Nikolaus Harnoncourt: Wichtige Lebensstationen
Gestern, Samstag, verstarb mit Nikolaus Harnoncourt der wohl berühmteste Dirigent Österreichs. Im Folgenden die zentralen Stationen im Leben des Originalklangpioniers.
6. Dezember 1929 Geburt in Berlin als Johann Nicolaus de la Fontaine und d'Harnoncourt-Unverzagt 1931- Familie übersiedelt wieder nach Graz 1945- Aufnahme von Cello-Unterricht 1947- Regisseur und Puppenschnitzer bei einer Produktion von Bruno Ertlers "Dr. Faust" im Grazer Palais Attems 1949- Gründung des Wiener Gamben-Quartetts 1952- Harnoncourt wird Cellist der Wiener Symphoniker 1953- Heirat mit Alice Hoffelner 1953- Gründung des Concentus Musicus Wien 1957- Offizielles Debüt des Concentus zur Wiedereröffnung des Palais Schwarzenberg 1969- Rückzug als Symphoniker-Cellist 1972- Beginn der Dirigententätigkeit mit Monteverdis "Il ritorno d'Ulisse" an der Piccolo Scala in Mailand 1973- Professur am Mozarteum Salzburg 1975- Erste Opernproduktion (Monteverdis "L'Orfeo" mit Jean-Pierre Ponnelle am Opernhaus Zürich) 1980- Erster Auftritt als Dirigent in Österreich (Mit dem Concertgebouw Orkest bei der Salzburger Mozartwoche) 1983- Debüt am Pult der Wiener Symphoniker 1984- Debüt am Pult der Wiener Philharmoniker 1985- Gründung des steirischen Klassikfestivals styriarte 1987- Debüt an der Wiener Staatsoper mit Mozarts "Idomeneo" 1992- Debüt bei den Salzburger Festspielen mit Beethovens "Missa Solemnis" 1992- Ehrenmitglied der Gesellschaft der Musikfreunde Wien 1999- Verleihung der Hans-von-Bülow-Medaille der Berliner Philharmoniker 2001- Dirigiert erstmals das Neujahrskonzert (2003 erneut) 2002- Verleihung des Ernst-von-Siemens-Musikpreises in München 2002- Aufnahme in den Orden "Pour le Merite" 2002- Verleihung des Grammy für die Aufnahme von Bachs "Matthäuspassion" 2003- Großes Verdienstkreuz mit Stern der Bundesrepublik Deutschland 2004- Ehrenmitglied der Wiener Philharmoniker 2008- Einzige Opernregie (Mozarts "Idomeneo" bei der styriarte) 2009- Österreichisches Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst 2012- Ernennung zum Officiers dans l'Ordre de la Legion d'Honneur 2014- Ehrenmitglied der Berliner Philharmoniker 2014- Echo Klassik für das Lebenswerk 5. Dezember 2015- Verkündung des Rückzugs vom Dirigentenpult in einem offenen Brief 5. März 2016- Tod im Alter von 86 Jahren