Neuer Thriller

Schätzing: Künstliche Intelligenz und Chaos im Kopf

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Der "Schwarm"-Autor wirft in "Die Tyrannei des Schmetterlings" die menschliche Logik über den Haufen.

In seinem neuen Roman "Die Tyrannei des Schmetterlings" entwirft Frank Schätzing eine neue Realität rund um eine Hochtechnologie, die den Menschen die Probleme der Welt vergessen lassen und den Betuchteren unter ihnen sogar die Bürde der Sterblichkeit abnehmen könnte. Aber dieselbe Hochtechnologie könnte nichts Geringeres bedrohen als das Überleben der Menschheit an sich.
 
Im Zentrum des neuen Schätzing-Thrillers steht ein genialer Supercomputer namens Ares. Ares steht für "Artificial Research and Exploring System" und eine "an sich gutartige Kreatur", wie es sein Schöpfer nennt. Über das "an sich" kann man allerdings streiten: Letztlich handelt es sich um eine künstliche Intelligenz, die gleich einer Raupe Nimmersatt nach Informationen lechzt, die klugen Köpfe seiner Erschaffer schon bald abhängt und vor allem eines nicht sein möchte: künstlich. Und da fangen die Probleme an.
 
Wo passt solch eine Supermaschine am wenigsten hin? Richtig: In die Provinz der USA, noch dazu der Vereinigten Staaten des Präsidenten Donald Trump. Genau dahin steckt sie Schätzing ganz bewusst: Hier haben die Leute so viel Ahnung von künstlicher Intelligenz wie die meisten anderen auf diesem Planeten - nämlich gar keine. Genau das richtige Milieu also, damit Schätzing seinen Lesern dieses hochkomplexe Thema näherbringen kann, ohne Wissenschafter A im Fachjargon zu Wissenschafter B sprechen lassen zu müssen.
 
Nun ist Schätzing (60) nicht der erste, der derzeit die Frage aufwirft, was die künstliche Intelligenz eines Tages mit uns anstellen könnte: Dan Brown hat sich kürzlich in "Origin" damit befasst, selbst der "Tatort" hat dem Thema vor nicht allzu langer Zeit mehrmals Beachtung geschenkt.
 
Schätzing setzt auf den knapp 730 Seiten des "Schmetterlings" alles daran, dem Leser so sehr den Kopf zu verdrehen, dass er irgendwann glaubt, die Haare auf seinem Rücken zählen zu können. Dabei klingt die Ausgangslage recht simpel: In einer Schlucht im verschlafenen Sierra County hängt eine Frau engelsgleich und eindeutig tot vom Baum. Undersheriff Luther Opoku und seine Kollegin Ruth Underwood sind ratlos, warum eine Frau einfach so auf einen Canyon zu gerannt und dort in ihren Tod gestürzt ist.
 
Wie passt da nun die "bedeutendste Forschungsanlage der Vereinigten Staaten" hinein, ein "im Akkord kackender Goldesel" der benachbarten Silicon-Valley-Elite, der 100 Meter unter der Erde Informationen frisst und weltweit seinesgleichen sucht? Das fragt sich Opoku nach kurzer Zeit auch - und muss kurzerhand miterleben, wie sein Leben so weit umgekrempelt wird, dass er irgendwann froh über die Erkenntnis ist: "Ich bin wirklich. Ich existiere."
 
Tauschen möchte man mit dem zweifelnden, sich gehirngewaschen fühlenden Opoku wahrlich nicht. So sehr die Vorstellung reizt, durch Zeit und Raum und Lebensrealitäten zu schlittern: Für Opoku ist das die Hölle, werden ihm doch komplexeste Fragen an den Schädel geworfen: Was ist Zukunft, wenn sie in der Gegenwart stattfindet? Beziehungsweise sich gerade in der Vergangenheit abgespielt hat? Und wie wirklich ist da noch die Wirklichkeit, wenn Tote auf einmal leben und Lebende einen Blick auf ihre eigene Leiche ertragen müssen?
 
Für Opoku bleiben zwei Erkenntnisse. Einmal denkt er: "Und überhaupt war vorgestern gestern." Und dann, glücklicher, aber auch verwirrter: "Ich habe einer Toten das Leben gerettet." Das Abnormale zu akzeptieren, heißt es in dem Roman, schafft noch lange keine Normalität. Das Chaos im Kopf ist perfekt.
 
Wie schon in seinen vorherigen Werken schafft es Schätzing, seine Leser für ein an sich erst einmal schwer zu greifendes Thema zu begeistern. Er zeigt die immensen Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz auf, aber auch ihre immensen Gefahren. Ob sie uns das Paradies bescheren oder vernichten wird? "Das wird sich herausstellen", sagt Schätzing im Interview der Deutschen Presse-Agentur. Seiner Ansicht nach müssen wir jetzt die Weichen dafür stellen, damit Supermaschinen ein Segen für uns werden - und kein Fluch.
 
Mittlerweile sind knapp 14 Jahre vergangen, seit Schätzing einem mit dem legendären "Schwarm" eines dieser massigen, seitenstarken Epen ins Bücherregal gestellt hat, zu denen er so gerne tendiert. Fünf Jahre später legte er mit dem 1300-Seiten-Weltraumspektakel "Limit" einen weiteren Wälzer nach, 2014 folgte mit "Breaking News" ein Thriller, der mit seinen fast 1000 Seiten wieder "Schwarm"-Länge hatte. "Die Tyrannei des Schmetterlings" klingt da mit ihren 730 Seiten für Schätzing-Verhältnisse fast nach Kurzroman. Der Handlung tut der Umfang durchaus gut: Überraschend schnell nimmt sie Fahrt auf, ohne dabei Tiefgang einzubüßen.
 
Und Schätzing vermengt diesmal so manches, was sich sonst nie über den Weg läuft: Provinzpolizisten mit den Visionären des Silicon Valley, persönliche Schicksale mit den großen Fragen der Menschheit. Und eben intelligente Maschinen mit intelligenten Menschen. Herausgekommen ist ein Roman, in dem der Leser unentwegt denkt und nachdenkt über das, was unsere Existenz eigentlich ausmacht.
 
Frank Schätzing: "Die Tyrannei des Schmetterlings", Kiepenheuer & Witsch, 736 Seiten, 26,80 Euro
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