3. Teil

Nataschas schwerste Zeit

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Die Jahre im Verlies: Im dritten Teil der Interview-Serie erzählt Natascha Kampusch erstmals Details über die Zeit ihrer Gefangenschaft.

Über die achteinhalb Jahre ihrer Gefangenschaft hat Natascha Kampusch in allen bisher veröffentlichten Interviews praktisch nichts erzählt. Vielmehr deutete sie – aus verständlichen Gründen – nur an, dass die lange Zeit, in der sie vom normalen Leben völlig ausgeschlossen war, einem ewigen Albtraum glich. Auch über ihre Ängste und Gefühle während dieser Zeit hat sie noch nie ausführlich gesprochen. Im ÖSTERREICH-Interviews tat sie es nun erstmals.

Immer wieder kam Natascha im Gespräch mit Uschi Fellner auf einzelne, besonders belastende Situationen zurück. Darauf, wie sie alles penibel aufschrieb, um "später" einmal nachvollziehen zu können, was mit ihr passiert war. Und darauf, wie sie sich selbst all das beibrachte, was andere Kinder in jahrelanger, mühsamer "Schul-Arbeit" von ihren Lehrern vermittelt bekommen. Erstmals spricht Natascha auch darüber, wie sie bei schwerer "Hausarbeit" helfen musste. Und unter Hunger litt.

ÖSTERREICH: Frau Kampusch, eine Frage, die sich wohl jeder stellt, der mit Ihnen Kontakt hatte, ist: Woher haben Sie diese enorme sprachliche Begabung? Sie wurden vor Abschluss der letzten Volksschulklasse entführt, und drücken sich besser aus als viele Maturanten.
Natascha: Naja, ich denke, ich hatte schon von klein auf eine starke sprachliche Begabung. Ich habe vor Kurzem einen Leistungstest für kognitive Fähigkeiten gemacht und da hat sich gezeigt, dass ich überdurchschnittlich begabt bin, was die Sprache betrifft. Selbst merkt man davon natürlich nichts, so etwas können einem nur die anderen sagen.

ÖSTERREICH: Haben Sie in der Gefangenschaft gelernt? Mir fällt auf, dass Sie auch ein umfangreiches medizinisches Wissen haben.
Natascha: Wie kommen Sie auf das medizinische Wissen?

ÖSTERREICH: Mir kommt vor, Sie kennen sich auch medizinisch gut aus. Haben Sie in Büchern nachgeschlagen?
Natascha: Ja, teilweise. Ich habe mich auch in der Gefangenschaft sehr für die Anatomie des Menschen interessiert, habe, so weit es mir möglich war, viel darüber gelesen. Ich habe mir auch immer medizinische Sendungen angehört. Ich interessierte mich eigentlich für alles, auch für die Biologie beispielsweise.

ÖSTERREICH: Das begründet aber noch nicht ihr Sprachtalent. Sie hatten ja keine Gelegenheit mit Menschen – außer mit dem einen Betreffenden – zu sprechen. Und mit dem haben Sie wahrscheinlich nicht stundenlang gesprochen, oder?
Natascha: Nein, da haben Sie Recht, das war eher nicht so. Ich gehe halt den Wörtern gerne bis zur Wurzel nach, das war immer schon so. Das heißt, auch wenn ich ein Wort noch nie zuvor gehört habe, kann ich mir darunter oft etwas vorstellen.

ÖSTERREICH: Haben Sie in der Gefangenschaft mit sich selbst gesprochen?
Natascha: Ja. Also eigentlich nicht mit mir selbst. Ich habe eben in meiner Vorstellung mit verschiedenen Leuten gesprochen. Mit Menschen aus der Vergangenheit oder Menschen, die ich vielleicht treffen könnte.

ÖSTERREICH: Und Sie haben viel geschrieben?
Natascha: Ja, viele Sachen.

ÖSTERREICH: Worüber haben Sie geschrieben?
Natascha: Über alles, was so passiert ist, was mir durch den Kopf ging. Ich wollte, dass es keine Unklarheiten gibt, dass man eines Tages nachlesen kann, was geschehen ist. Manchmal war der Inhalt mehr emotional, und dann wieder sachlich.

ÖSTERREICH: Haben Sie in Gefangenschaft auch auf einer Tastatur zu schreiben gelernt?
Natascha: Ja, ich hatte einen kleinen Lerncomputer, der aber nicht allzu viel gekonnt hat. Leider Gottes hatte er keine große Speicherkapazität und die Batterien sind auch dauernd leer geworden. Ich konnte oft über Monate nichts damit anfangen, weil ich keine Batterien dafür bekommen habe.

ÖSTERREICH: Das heißt, Sie sind mit einem Computer vertraut?
Natascha: Ja, aber nur grundlegend.

ÖSTERREICH: Dass Sie nicht in die Schule gehen durften, war für Sie anscheinend sehr schlimm?
Natascha: Ja, schon. Ich habe mir für mich halt immer gedacht: Ich muss dieses und jenes können. Und ich bin immer vom Optimum ausgegangen und habe mich immer nach dem Optimum gerichtet. Irgendwie habe ich mich nie entmutigen lassen, bzw. habe versucht, selbst auf viele Dinge draufzukommen, von denen ich angenommen habe, dass sie im Lehrplan stehen und in der Schule unterrichtet werden.

ÖSTERREICH: Frau Kampusch, ich möchte kurz auf die Mutter von Herrn Priklopil eingehen. Möchten Sie sie jemals kennenlernen?
Natascha: Schon, unbedingt. Sie kann ja nichts dafür. Und ich möchte sie kennenlernen, weil ich sie ja indirekt schon die ganzen Jahre über gekannt habe. Ich möchte einmal wissen, wer diese Person war, die jedes Wochenende ins Haus kam, ohne dass sie mich bemerkt hat.

ÖSTERREICH: Ist es nicht unerklärlich für Sie, dass Frau Priklopil nie etwas von Ihrer Existenz im Haus bemerkt hat?Natascha: Das ist nicht unerklärlich. Wie hätte sie etwas bemerkt haben sollen? Es war kein Brösel von mir zu finden, kein einziges Haar, nichts. Das Haus wurde regelmäßig gereinigt und durchforstet, bevor sie kam. Es wurden Zeitpolster eingebaut, es wurde mit ihr vereinbart, dass sie anruft, bevor sie kommt. Er hat sie immer vom Bahnhof abgeholt, das war auch ein Sicherheitsnetz. Woher sollte sie wissen, dass ich da bin?

ÖSTERREICH: Vielleicht mütterliches Gespür, dass in diesem Haus etwas nicht stimmt?
Natascha: Nein, das war unmöglich. Es wurden alle Hinweise auf mich beseitigt. Sogar Lebensmittel, die ich gegessen habe, wurden weggeschmissen. Oder ich musste übergroße Mengen von dem essen, was ich normalerweise über Tage gegessen hätte.

ÖSTERREICH: Und Sie glauben nicht, dass dem Verhalten von Herrn Priklopil irgendein Hinweis zu entlocken gewesen wäre, der auf Ihre Existenz hingedeutet hätte?

Natascha: Nein. Dazu konnte er sich viel zu gut verstellen. Er hat sich nach außen völlig unauffällig benommen. Er hat weiterhin irgendwelche Kontakte zu Freunden und Bekannten gepflegt, er ist irgendwo hingegangen, wohin er eigentlich gar nicht wollte, er hat seine Gewohnheiten beibehalten.

ÖSTERREICH: Aber Sie mussten ihm helfen, den Haushalt zu führen oder ihn auch bei schwereren Arbeiten unterstützen?
Natascha: Offiziell, also vor seiner Mutter, hat er natürlich alleine saubergemacht. Er konnte offiziell offenbar alles ganz gut alleine machen, auch das Badezimmer verfliesen, das ist scheinbar alles von ganz alleine gegangen. Und die schweren Gipsplatten hat er natürlich auch ganz alleine geschleppt und montiert, wer hätte daran zweifeln sollen? Seine Mutter hat ihm alles geglaubt, weil er ja sehr fleißig war. Warum hätte sie auch daran zweifeln sollen?

ÖSTERREICH: Sie haben auch gekocht. Können Sie gut kochen?
Natascha: Hm, naja. Was ich gut kann, sind zum Beispiel Germknödel. Meine Germknödel sind super.

ÖSTERREICH: Sie meinen, richtig selbstgemachte Germknödel oder Tiefgekühlte?
Natascha: Selbstgemachte, natürlich. Mein Apfelkuchen ist auch nicht schlecht.

ÖSTERREICH: Wer hat Ihnen das Kochen beigebracht? Haben Sie Kochbücher gelesen?
Natascha: Ich habe mir das Kochen selbst beigebracht. Und ich hätte auch schon viel früher kochen können, nur, am Anfang hat er mich nicht kochen lassen.

ÖSTERREICH: Und haben Sie später dann gerne gekocht?
Natascha: Schon. Aber zeitweise nicht, zum Beispiel, wenn ich kreislaufgeschwächt nach zwei Tagen Hungern zu ihm raufkommen musste, um was zu kochen. Das Essen war dann auch ziemlich anstrengend für mich und natürlich nachher das Saubermachen. Außerdem habe ich nicht gerne gekocht, wenn ich daran gedacht habe, dass ich jetzt Mengen zubereiten muss, die für mich überhaupt nicht bewältigbar sind. Ich habe dadurch auch eine sehr selektive Meinung gegenüber Lebensmitteln bekommen.

ÖSTERREICH: Inwiefern?
Natascha: Wenn ich jetzt in einen Supermarkt gehe, dann finde ich vieles abstoßend. In Lokalen esse ich momentan auch nicht so gerne. Allerdings sollte ich selbst ja alle zwei Stunden etwas essen.

ÖSTERREICH: Wegen Ihres Kreislaufs?
Natascha: Genau, damit der Blutzuckerspiegel nicht zu sehr fällt. Generell bin ich aber eine sogenannte schlechte Esserin.

ÖSTERREICH: Der Hunger war während Ihrer Gefangenschaft immer wieder ein Faktor, der sie gequält hat. Was noch? Die Angst? Die Einsamkeit?
Natascha: Es war so eine Mischung. Eine undefinierbare Angst, ein permanentes unangenehmes Gefühl. Das Gefühl, dass mein ganzes Leben sozusagen zerstört und ruiniert ist. Dass ich keine Zukunftschancen und keine Kinder haben werde. Dass ich meine Nichten und Neffen nicht sehen kann, nicht beobachten kann, wie sie sich entwickeln. Meine Nichte Helena war ja damals noch ein Baby.

ÖSTERREICH: Sie haben sich um Ihre Zukunft betrogen gefühlt?
Natascha:Ja. Ganz schlimm für mich war das Gefühl, dass ich meine Großeltern wahrscheinlich nie wieder sehen werde, was auch stimmte, denn meine Großmutter ist verstorben, auch mein Großvater, ich habe jetzt nur noch eine Großmutter. Außerdem hatte ich meiner Katze als Kind fest versprochen, für immer bei ihr zu sein, garantiert dabei zu sein, wenn sie stirbt. Leider ist sie gestorben, ohne dass ich ihr beistehen konnte.

ÖSTERREICH: Träumen Sie von der Zeit in Gefangenschaft?
Natascha: Ja. An sich bin ich eine Vielträumerin und ich habe das Glück, mich gut in meinen Träumen bewegen zu können. Ich habe eigentlich nie wirklich schlimme Albträume. Ich kann Albträume – sozusagen während ich träume – neutralisieren, sie zum Positiven wenden, rechtzeitig unterbrechen, ohne dass der Schock in den Knochen bleibt.

ÖSTERREICH: Vielleicht können Sie das so gut, weil Sie den schlimmsten Albtraum real durchlebt haben?
Natascha: Ja, komisch. In der Gefangenschaft habe ich aber eineinhalb Jahre lang überhaupt nichts geträumt.

ÖSTERREICH: Können Sie jetzt gut schlafen?
Natascha: Das kommt darauf an, wie man gut schlafen definiert. Ganz am Anfang, seit ich frei bin, konnte ich nur zirka vier Stunden am Stück schlafen. Jetzt schaffe ich es schon, fünfeinhalb Stunden am Stück zu schlafen. Ich sag immer, ich bin ein Mensch, der früh aufsteht und lange wach bleibt.

ÖSTERREICH: Das war während Ihrer Gefangenschaft auch so?
Natascha: In der Gefangenschaft wurde ich halt teilweise gezwungen zu schlafen, um Strom zu sparen.

ÖSTERREICH: Wie zwingt man jemanden zum Einschlafen?
Natascha: Zur Not kann man sich schon zum Einschlafen zwingen.

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