Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz steht trotz seiner jüngsten Ankündigungen weiter auch in der eigenen Koalition wegen Rüstungshilfen für die Ukraine unter Druck.
Dem Grünen-Politiker Anton Hofreiter und der FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann gehen Scholz' Äußerungen vom Dienstagabend nicht weit genug. Auch der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk zeigte sich unzufrieden.
Scholz hat der Ukraine zugesagt, direkte Rüstungslieferungen der deutschen Industrie zu finanzieren. "Wir haben die deutsche Rüstungsindustrie gebeten uns zu sagen, welches Material sie in nächster Zeit liefern kann", sagte er am Dienstag. "Die Ukraine hat sich nun von dieser Liste eine Auswahl zu eigen gemacht, und wir stellen ihr das für den Kauf notwendige Geld zur Verfügung." Darunter seien wie bisher Panzerabwehrwaffen, Luftabwehrgeräte, Munition "und auch das, was man in einem Artilleriegefecht einsetzen kann".
Melnyk kritisierte Scholz' Ankündigung als unzureichend. Die Äußerungen des SPD-Politikers seien in der ukrainischen Hauptstadt Kiew "mit großer Enttäuschung und Bitterkeit" zur Kenntnis genommen worden, sagte Melnyk der Deutschen Presse-Agentur. Zwar begrüße man die Bereitschaft Deutschlands, zusätzliche Finanzmittel für Rüstungsgüter zur Verfügung zu stellen. Es gebe aber nach wie vor viel mehr offene Fragen als Antworten.
"Die These, dass die Bundeswehr der Ukraine nichts mehr zu liefern imstande wäre, ist nicht nachvollziehbar", sagte Melnyk. Die Truppe habe mehr als 400 Marder-Schützenpanzer, von denen etwa 100 für Ausbildung und Training benutzt würden und daher sofort an die Ukraine übergeben werden könnten. Außerdem habe die Bundeswehr nach seinen Erkenntnissen etwa 800 Fuchs-Transportpanzer, von denen ein Großteil nicht im Einsatz sei und deswegen in die Ukraine geschickt werden könnte. "Ganz entscheidend wäre auch die Lieferung von Panzerhaubitzen 2000." Von diesen Artilleriegeschützen mit großer Reichweite gebe es im Bestand der Bundeswehr etwa 120, sagte Melnyk.
Im ZDF-"heute journal" hatte er zudem moniert, auf der Liste möglicher Waffenlieferungen, die die Ukraine vor einigen Woche aus Deutschland bekommen habe, befänden sich gar keine schweren Waffen. "Die Waffen, die wir brauchen, die sind nicht auf dieser Liste."
Scholz hatte am Dienstag jedoch nicht von einer direkten Lieferung schwerer Waffen aus Deutschland gesprochen. NATO-Partner, die Waffen sowjetischer Bauart in die Ukraine liefern, könnten aber Ersatz aus Deutschland erhalten. "Das ist etwas, was wir mit vielen anderen zusammen machen, die den gleichen Weg einschlagen wie wir." Sofortige Einsetzbarkeit und Verfügbarkeit seien bei den Waffenlieferungen wichtig. Lieferungen aus Bundeswehrbeständen soll es laut Scholz dagegen kaum noch geben. "Hier müssen wir inzwischen erkennen, dass die Möglichkeiten, die wir haben, an ihre Grenzen stoßen", sagte er.
Grünen-Politiker Hofreiter sagte dem Nachrichtenportal t-online: "Die von Olaf Scholz angekündigte Unterstützung unserer Partnerländer bei den Waffenlieferungen in die Ukraine ist ein weiterer Schritt in die richtige Richtung, aber er reicht nicht aus". Auch dem Redaktionsnetzwerk Deutschland sagte er, wirklich entscheidend sei, dass die Ukraine jetzt schnell auch schwerere Waffen bekomme.
Die FDP-Verteidigungspolitikerin Strack-Zimmermann begrüßte auf Twitter, dass Scholz den Vorschlag aufgreift, für die Ukraine sofort bedienbare Waffen über osteuropäische Partner zu liefern, die Deutschland dann kompensiere. "Um Freiheit und Menschenrechte muss man aber kämpfen, die bekommt man nicht geschenkt. Dafür kam heute noch zu wenig Konkretes." Auch aus der oppositionellen Union kam erneut Kritik. "Zu wenig - zu spät", das bleibe die bittere Bilanz nach der Pressekonferenz von Scholz, schrieb Vize-Unionsfraktionschef Johann Wadephul (CDU) bei Twitter. "Deutschland liefert weiter keine schweren Waffen, d.h. lässt die Ukraine im Stich."
Der verteidigungspolitische Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion, Rüdiger Lucassen, forderte eine Entscheidung des Parlaments. Mit einer Lieferung schwerer Waffen werde "die Bundesrepublik völkerrechtlich zwar eindeutig nicht zur Kriegspartei", sagte er der Deutschen Presse-Agentur. "Es besteht aber das Risiko, dass Moskau dies anders sieht. Dieses erhebliche Risiko muss die Bundesregierung kalkulieren und eine Entscheidung dieser Tragweite daher zwingend dem Deutschen Bundestag zur Abstimmung vorlegen."
Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken will sich an diesem Mittwoch mit dem ukrainischen Botschafter Melnyk treffen. "Gerade in Zeiten, in denen uns die Herzen schwer sind und die Debatten manchmal hitzig, ist es umso wertvoller, das offene und vertrauensvolle Gespräch zu pflegen", schrieb sie zu dem Gespräch auf Twitter. Melnyk machte deutlich, dass er sich grünes Licht für die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine erhoffe. Außerdem erwarte er einen Lieferstopp für russisches Gas und Öl. Einem generellen Energie-Embargo hat die gesamte deutsche Regierung aus SPD, Grünen und FDP eine Absage erteilt.
Melnyk hatte in den vergangenen Wochen immer wieder mit scharfen Worten den früheren Russland-Kurs der SPD verurteilt und mehr deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine gefordert. Am Wochenende kam es zu einem harten Schlagabtausch, als der ehemalige deutsche Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) in einem Gastbeitrag für den "Spiegel" "gezielte Angriffe" auf Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier kritisierte und Melnyk "Verschwörungstheorien" vorwarf.
Vor Eskens Treffen mit Melnyk hat sich SPD-Chef Lars Klingbeil unterdessen auch für eine klare EU-Beitrittsperspektive für die Ukraine ausgesprochen. "Die Menschen in der Ukraine sind Europäerinnen und Europäer. Sie kämpfen für unsere europäischen Werte und mit großer Entschlossenheit gegen Putins brutale Truppen", sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Die Ukraine hatte kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs die Mitgliedschaft in der EU beantragt und drängt auf ein beschleunigtes Verfahren. Bei einem früheren Gespräch Eskens mit Melnyk am 6. April war auch Klingbeil dabei.