Mehr als eine Woche nach den verheerenden Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet mit mindestens 37.500 Todesopfern ist die Situation in den Krisengebieten weiter schwierig.
"Das Leid der Menschen ist unbeschreiblich", berichtete der Koordinator für Humanitäre Hilfe von Hilfswerk International, Heinz Wegerer, am Dienstag bei einer Pressekonferenz. Er kehrte erst am Montag aus der Türkei nach Österreich zurück. "Der Leichengeruch wird immer stärker", sagte der Nothelfer.
Die österreichische Organisation Hilfswerk International leistet in der schwer betroffenen Provinz Hatay Nothilfe. Wegerer war seit vergangenen Donnerstag in der türkischen Küstenstadt Iskenderun tätig. "Was ich dort gesehen habe, was ich dort miterlebt habe, ist schwer oder gar nicht in Worte zu fassen", berichtete er betroffen bei einer Pressekonferenz in Wien. Der erfahrene Helfer war bereits im Jemen, dem Irak oder auch der Ostukraine im Einsatz. Die verzweifelte Situation der Bevölkerung im Erdbebengebiet gehe ihm sehr nahe. In Iskenderun gibt es beispielsweise "vier parallele Straßenzüge, wo links und rechts sämtliche Gebäude zerstört sind", erzählte Wegerer. Nach wie vor liegen zahlreiche Vermisste unter den Trümmern, "vor den zerstörten Gebäuden sitzen Menschen und harren seit vergangenen Montag aus, sie hoffen auf ein Wunder", sagte er.
Unterdessen wird der beißende Leichengeruch in den Straßen immer stärker und die Hoffnung immer geringer. "Es wurden schon verstärkt Durchfallerkrankungen festgestellt, einen Seuchenausbruch wie Cholera kann man nicht ausschließen", sagte der Oberösterreicher. Die Bevölkerung brauche nun am dringendsten "ein Dach über dem Kopf, Wärme in den bitterkalten Nächten, Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie Sanitäranlagen". Derzeit schlafen Menschen auf der Straße, in Zelten, in Autos, in Notunterkünften. Das "geht aber nur kurzfristig". In seinem mehrtägigen Einsatz habe er eine "unglaubliche Solidarität" erlebt, "die Menschen helfen sich gegenseitig, trösten sich". Wegerer übernachtete die vergangenen Tage gemeinsam mit rund 50 anderen Menschen in einem Restaurant am Boden, "der Betreiber hat die Türen geöffnet, die Menschen hereingelassen, er gibt ihnen Essen und versorgt auch die Helfer an den Einsatzstellen damit", schilderte er.
Neben zahlreichen bereits eingestürzten Gebäuden ist in Iskenderun der Großteil der Häuser auch schwer beschädigt und unbewohnbar. "Das gesamte Ausmaß der Katastrophe ist noch nicht greifbar." Im Pressegespräch berichtete Wegerer von einem neunstöckigen Gebäude, das völlig eingestürzt ist. Die Helfer arbeiteten sich von oben nach unten, doch auch nach Tagen werden noch rund 120 Menschen in den Trümmer vermisst. Sie dürften beim Beben in Panik nach unten gelaufen und offenbar aufgrund blockierter Türen nicht ins Freie gelangt sein, schilderte Wegerer. "Die Angehörigen harren nach wie vor vor dem Gebäude aus, der Leichengeruch ist schon sehr stark." Ein Helfer erzählte dem Logistik-Experten, dass er sich am Tag bereits zehn Mal übergeben musste, weil er "verschiedenste Leichenteile hat bergen müssen".
Auch das Schicksal eines Lehrers, der sich beim Erdbeben in Istanbul aufhielt, berührte Wegerer. Er versuchte stundenlang, seine Familie zu erreichen und fuhr mit dem Auto zwölf Stunden nach Iskenderun. Dort angekommen musste er feststellen, dass seine gesamte Familie unter den Trümmern begraben ist, seine Frau und seine drei Kinder. "Seit Montag sitzt er vor dem teilweise eingestürzten Gebäude", berichtete Wegerer. Solche Schicksale bereiten "selbst hartgesottenen humanitären Helfern schlaflose Nächte".
Schelle und unkomplizierte Hilfe sei dringend notwendig. In den ersten Tagen musste vor allem die lokale Bevölkerung den Großteil der humanitären Hilfe leisten. "Wir werden dafür sorgen, dass die Menschen die Hilfe aufrecht erhalten können und einen langen Atem haben", betonte Wegerer. Bis zu 50 Hilfswerk-Mitarbeiter sollen das in der Türkei sicherstellen. Wegerer berichtete auch von Problemen bei der Nothilfe. Die staatliche Katastrophenschutzbehörde Afad "ist mit der Koordination offensichtlich überfordert". So wurden beispielsweise "Kleiderspenden einfach vom Lkw runtergeworfen, das ist kein würdevoller Umgang mit Menschen in Not", sagte der Experte. Mit den lokalen Behörden funktioniere die Zusammenarbeit jedoch sehr gut, betonte er.
"Die beste Möglichkeit zu helfen, ist Geld zu spenden", sagte Wegerer. Es ist "beispielsweise viel komplizierter, einen Pullover aus Wien dorthin zu bringen als ihn vor Ort zu kaufen". "Wir versuchen, wenn immer es nur irgendwie geht, die Wertschöpfung vor Ort zu generieren", betonte auch Stefan Fritz, Geschäftsführer von Hilfswerk International.
Die Zahl der bestätigten Toten lag bis Dienstagfrüh bei mehr als 37.500, mehr als 80.000 Menschen wurden verletzt. Tausende werden weiter vermisst. "Es wird von bis zu 50.000 Todesopfern ausgegangen, ich glaube, dass diese Zahl deutlich zu tief angesetzt ist", sagte Fritz.
Das Hilfswerk International ist eine österreichische und weltweit tätige Hilfsorganisation mit Hauptsitz in Wien. Sie wurde im Jahr 1978 gegründet und ist aktuell in 19 Ländern aktiv.
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