Über 70 Tote

Kiew: Scharfschützen feuern auf Demonstranten

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Jagdszenen in Kiew. Sniper erschießen Demonstranten – ­ÖSTERREICH berichtet live.

Blankes Entsetzen, Schock, Panik. Gestern brach Krieg aus am Maidan-Platz in Kiew. Zum zweiten Mal nach der Blutnacht von Mittwoch. ÖSTERREICH-Reporter Karl Wendl ist direkt am Platz:

Ich stehe hier, es ist Donnerstagfrüh. Vor mir liegen elf tote Männer. Neben einem Café. Notdürftig abgedeckt mit Tüchern: „Jeder wurde mit einer einzigen Kugel in den Kopf erschossen“, schreit der Arzt Dmitri Kaschin.

Eine Krankenschwester zieht die blutige Decke weg. Zu sehen ist das Gesicht eines jungen Mannes. Auf der Stirn ein Einschussloch. Der Hals ist blutverschmiert. Die Krankenschwester sucht nach einem Ausweis des Toten. In der Brusttasche findet sie ein Dokument. Mit grünem Filzstift schreibt sie den Namen des Toten auf dessen Oberschenkel. Plötzlich knallt es wieder. Jeder sucht Schutz: „Sie schießen vom Dach des Hotels Ukraine. Direkt gegenüber.“

Scharfschützen feuern, schwere Panzer fahren auf
Offenbar machen Heckenschützen Jagd auf Regierungsgegner. Ich laufe zu einem Rot-Kreuz-Stützpunkt am Maidan. Treffe Nikolay, einen Arzt. Er sagt: „Gerade haben sie ein junges Mädchen angeschossen. Eine Studentin, die als Rot-Kreuz-Helferin bei uns war. Das Projektil streifte ihren Nacken. Sie lebt.“

Dann wieder Schüsse. Niemand kann sagen, woher sie kommen, wer begonnen hat. Fest steht nur, weil ich es mit eigenen Augen gesehen habe: Donnerstagfrüh fuhren am Rande der Innenstadt Panzerwagen auf. Gleichzeitig kletterten bewaffnete Demonstranten über die eigenen Barrikaden, trieben die Polizei zurück. Den Berg hinauf zum evakuierten Regierungsviertel.

Immer wieder warfen Polizisten Blendgranaten. Die Demonstranten antworten mit Steinen und Molotowcocktails, gezielten Feuerwerkskörpern. Der ganze Platz ist von diesen lodernden Feuern umrahmt, sie sollen wohl eine Art Sichtschutz bilden.

Ministerium gibt scharfe Munition frei – 70 Tote
Politisch besonders brisant: Just als alles eskalierte, wollte der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier mit seinen französischen und polnischen Amtskollegen den ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch treffen. Das Treffen wird zur Farce und abgebrochen. Denn gleichzeitig rücken vorm Maidan-Platz Berkut-Einheiten an, die Spezialtruppe des Innenministeriums. Wenig später gibt das Ministerium scharfe Munition für Soldaten frei. Die Todesbilanz steigt: 70 tote Menschen sind es bis zum Abend.

Außenminister Sebastian Kurz:
›Das sind gezielte Sanktionen‹

ÖSTERREICH: Sie waren für EU-Sanktionen gegen die Gewalteskalation in Kiew?
Sebastian Kurz: Ja, ich habe mich für zielgerichtete Sanktionen ausgesprochen, zielgerichtet auf diejenigen, die verantwortlich sind für die Gewalt in der Ukraine. Was wichtig ist, ist, dass man damit nicht die Bevölkerung trifft, sondern jene, die eben verantwortlich sind für die Eskalation.

ÖSTERREICH: Es liegen mutmaßlich Millionen Euro von ukrainischen Politikern und Oligarchen in Österreich. Wird die Republik nun diese Konten sperren?
Sebastian Kurz: Es gibt natürlich Kapital aus der Ukraine in Österreich, so wie in einigen anderen Ländern auch. Wir stehen jedenfalls bereit, alles umzusetzen, was beschlossen wird. Es geht um konkrete Listen, die jetzt erstellt werden müssen.

ÖSTERREICH: Hat die EU nicht wieder zu langsam reagiert?
Sebastian Kurz: Ich habe bereits Mittwochfrüh eine gemeinsame Sitzung der EU-Außenminister gefordert. Catherine Ashton hat diese sehr schnell einberufen. Die Situation in der EU ist dramatisch. Es fließt in der Ukraine weiter Blut. Da können wir nicht wegschauen. Es ist wichtig, dass die EU gemeinsam und geschlossen handelt.

ÖSTERREICH: Der wichtigere Player in diesem blutigen Konflikt scheint aber Putins Russland zu sein, nicht?
Sebastian Kurz: Es ist wichtig, dass die EU, dass wir, mit Russland in einem beständigen Dialog bleiben.
 

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Blutige Nacht in Kiew