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Lage eskaliert

Polizei setzt Tränengas gegen Migranten auf Lesbos ein

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Hunderte frühere Lagerbewohner protestieren gegen verzweifelte Lage.

Nach der Brandkatastrophe im Flüchtlingslager Moria ist die griechische Polizei am Samstag mit Tränengas gegen protestierende Migranten auf der Insel Lesbos vorgegangen. Wie ein Fotograf der Nachrichtenagentur AFP berichtete, hatten Migranten zuvor Steine auf Polizisten geworfen. Hunderte ehemalige Lagerbewohner, die seit vier Tagen im Freien ausharren, protestierten gegen ihre verzweifelte Lage.

Polizei setzt Tränengas gegen Migranten auf Lesbos ein
© AFP

Lager vollständig zerstört

Das Lager war in der Nacht auf Mittwoch bei mehreren zeitgleichen Bränden fast vollständig zerstört worden. Statt der vorgesehenen knapp 3.000 Migranten waren dort mehr als 12.000 untergebracht. Einige sollen Feuer gelegt haben, nachdem für die Bewohner wegen Corona-Infektionen Quarantäne verordnet worden war.
Polizei setzt Tränengas gegen Migranten auf Lesbos ein
© AFP
 
Tausende, darunter Kinder, verbrachten die vierte Nacht in Folge im Freien. Humanitäre und staatliche Organisationen verteilten Wasser und Lebensmittel, wie das griechische Fernsehen (ERT) zeigte. Am Samstagvormittag protestierten Hunderte Migranten gegen ihre verzweifelte Lage. Die Polizei setzte daraufhin laut einem Fotografen der Nachrichtenagentur AFP auch Tränengas ein.
 

Migranten wollen nicht in Lager

Die griechischen Behörden arbeiteten indes an einem provisorischen Zeltlager. "Alle Menschen müssen dorthin gehen. Nur so werden wir sie richtig versorgen können", erklärte der stellvertretende Migrationsminister Giorgos Koumoutsakos im Athener Nachrichtensender Skai.
 
Polizei setzt Tränengas gegen Migranten auf Lesbos ein
© AFP
× Polizei setzt Tränengas gegen Migranten auf Lesbos ein
 
 Zahlreiche Migranten sagten aber Reportern, sie wollten nicht ins Lager und sähen nun die Chance, ihre Abreise durchzusetzen. "Wir wollen nach Deutschland - nicht ins Lager", sagten viele. Bei spontanen kleinen Demonstrationen riefen Migranten "Freiheit, Freiheit".

Österreich nimmt keine Flüchtlinge auf

Zehn europäische Staaten haben sich zur Aufnahme von insgesamt 400 unbegleiteten Minderjährigen bereit erklärt, von ihnen wollen allein Deutschland und Frankreich je 100 bis 150 übernehmen. Diesem ersten Schritt werde ein weiterer folgen, hatte der deutsche Innenminister Horst Seehofer (CSU) am Freitag gesagt. "Ich lege persönlich sehr großen Wert darauf, dass wir eine rasche Lösung für Familien mit Kindern finden."
 
Zur Gruppe zählen auch Staaten, die bisher eine harte Linie in der Flüchtlingsfrage vertraten wie die Niederlande, Kroatien oder Slowenien. Dessen Ministerpräsident Janez Janša hatte erst am Dienstag nach einem Treffen mit Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) den Gleichklang in der Migrationsfrage betont. Über die Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU könne man erst reden, wenn die Frage des Außengrenzschutzes gelöst sei, sagte Janša.
 
Video zum Thema: Statement von Sebastian Kurz
 
Bundeskanzler Kurz bleibt jedoch trotz des wachsenden Drucks auch aus den eigenen Reihen hart in der Frage, ob Kinder aus dem abgebrannten Lager aufgenommen werden sollen. In einem am Samstag in der Früh auf Facebook veröffentlichten Video warnte Kurz vor einer Wiederholung der Ereignisse des Jahres 2015, als die europäische Politik angesichts der "schrecklichen Bilder am Bahnhof in Budapest (...) dem Druck nachgegeben hat und die Grenzen geöffnet hat". Es seien am Ende eine Million Menschen gekommen, die Schlepper hätten Unsummen verdient und unzählige Menschen seien im Mittelmeer ertrunken. "Dieses menschenunwürdige System aus 2015, das kann ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren", sagte Kurz.
 
"Auf europäischer Ebene werden wir uns für einen ganzheitlichen Ansatz einsetzen. Was wir nicht brauchen, ist Symbolpolitik", sagte er in Anspielung auf die Initiative von zehn EU-Staaten zur Aufnahme von 400 Kindern. Kurz räumte ein, dass die Bilder aus Moria "niemanden kalt" ließen, verwies aber auch auf andere Gebiete, die nicht so im Scheinwerferlicht stünden. Den Menschen müsse man vor Ort helfen, forderte Kurz und verwies in diesem Zusammenhang auf Gespräche mit den Grünen.
 
   "Leben retten ist niemals Symbolpolitik", konterte SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner. "Wer nicht hilft, macht sich mitschuldig. An dieser Wahrheit ändern auch Ihre Belehrungen nichts." SPÖ-Vizeklubchef Jörg Leichtfried kündigte an, dass die größte Oppositionspartei im Nationalrat einen Antrag zur Aufnahme von Kindern aus Moria als "humanitäre Notmaßnahme" einbringen werde. Der Antrag sei auch eine "Nagelprobe für Vizekanzler Kogler und die grüne Regierungspartei".
 

Ärzte ohne Grenzen: Situation auf Lesbos eskaliert komplett

Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen sieht die Lage auf Lesbos nach den Bränden im griechischen Flüchtlingslager Moria als sehr dramatisch. "In diesem Augenblick, während Österreich über die Worte des Kanzlers zur Moria-Katastrophe diskutiert, eskaliert die Situation auf Lesbos komplett", sagte der humanitäre Berater Marcus Bachmann am Samstag in einer Aussendung.
 
"Unsere Teams vor Ort berichten von Familien mit Kleinkindern, die in brütender Hitze auf dem nackten Asphalt ausharren, ohne Zelte, Decken, Nahrung oder Wasser und medizinische Hilfe. Tausende verzweifelte Menschen, mitten in Europa, ohne Hilfe und ohne jede Aussicht darauf", erklärte Bachmann. Die medizinischen Teams der Ärzte ohne Grenzen würden zwar Erste Hilfe leisten. "Aber es ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Die Menschen müssen evakuiert werden, zuallererst unbegleitete Minderjährige, Familien mit Kindern und besonders schutzbedürftige Personen. Auch Österreich ist hier gefragt, denn Griechenland ist ganz offensichtlich überfordert."
 
Auf Lesbos und anderen griechischen Inseln gebe es hunderte Patienten, die dringend medizinische Hilfe brauchen und nicht vor Ort versorgt werden könnten. Frauen, Männer, Kinder und Jugendliche würden aufgrund der Situation in den Lagern körperlich und psychisch krank werden, betonte Bachmann: "Bereits junge Kinder werden wegen ihrer aussichtslosen Lage depressiv, verletzen sich selbst, hegen Selbstmordgedanken. Schwer traumatisierte Kriegsflüchtlinge werden in den Lagern re-traumatisiert. Die Lebensbedingungen sind katastrophal, Wasser und Sanitäreinrichtungen erfüllen nicht einmal die Mindeststandards."
 
Angesichts dessen, dass die Bundesregierung zwar die Aufnahme von Migranten aus dem Lager ablehnt, aber Hilfe vor Ort leisten will, sagte Bachmann: "Hilfe vor Ort ist gut und wichtig. Doch sie wurde schon so oft angekündigt - vor Ort haben unsere Teams bisher nicht viel davon gesehen. Stattdessen wurde die Lage schlimmer und schlimmer, bis das Pulverfass explodiert ist." Nun dürfe nicht zugelassen werden, dass aus der Asche Morias "dasselbe unmenschliche System des Wegsperrens von Schutzsuchenden wiedergeboren wird", plädierte er gegen die Wiedererrichtung eines Flüchtlingslagers wie Moria auf Lesbos.
 
 
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