Ukraine-Krise

100 Tage Krieg: Experte sieht Russen im Donbass im Vorteil

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Ukrainer brauchen für eine Wende schwere Artillerie.

Am Freitag schreibt der Krieg in der Ukraine den 100. Tag. Für die ukrainischen Verteidiger im Osten des Landes sind es schwere Tage, wie Oberst Markus Reisner, Leiter der Entwicklungsabteilung der Theresianischen Militärakademie, im APA-Gespräch erklärt. "Die Situation wird für die Ukrainer im Osten des Landes zunehmend düsterer." 10.000 bis 12.000 Soldaten droht die Einkesselung in einem Raum von 40 mal 40 Kilometern zwischen Lyman, Artemisk, Popsana und Sewerodonezk.

"Es fehlen nur mehr 20 Kilometer und die Russen können den Kessel schließen", so Reisner. Aus dem umkämpfen Gebiet tauchen immer mehr Videos von ukrainischen Einheiten auf, die sich an ihre Vorgesetzten oder an Präsident Wolodymyr Selenskyj wenden und über fehlende Waffen und Munition klagen und sich darüber beschweren, dass sie nicht ausreichend ausgebildet seien für den Kampf. Es gibt laut Reisner bereits mindestens 13 solcher Videos. Einige dieser Soldaten wurden laut ihren Aussagen in den Videos aus dem Westen des Landes in den umkämpften Osten verlegt und waren auf den heftigen Artillerie-Beschuss nicht vorbereitet.

"Entsprechend ist die aktuelle Kernforderung der Ukraine an den Westen die Lieferung von Mehrfachraketenwerfer. Das ist die einzige Möglichkeit, die Russen zurückzuschlagen und die russische Artillerie abzunutzen", meint der Experte. Wenn in den kommenden Wochen kein entsprechender Effekt auf dem Gefechtsfeld eintritt, hätten die Russen gute Chancen den Kessel endgültig zu schließen. Bisher hätten die westlichen Waffenlieferungen keinen durchschlagenden Erfolg gebracht.

Zu glauben, dass den Russen die Munition ausgehen könnte, wäre illusorisch, warnt Reisner vor falschen Meldungen in den sozialen Medien. Die Russen hätten hunderttausende Geschosse so genannter "ungelenkter" Bomben und Raketen. Wie viele gelenkte Raketen, wie etwa Marschflugkörper oder ballistische Raketen, sie noch haben, ist unbekannt. Verschossen wurden bisher über 2.200. Das sollen rund 60 Prozent des gesamten russischen Arsenals sein. Aber auch die ungelenkten Raketen haben ausreichend Wirkung.

Reisner weist auf thermobarischen Raketen des Mehrfachraketenwerfers TOS-1 hin. Dieses Waffensystem wird "Putins Höllenmaschine" genannt. Wo ein solcher thermobarer Sprengkopf einschlägt, herrscht im Umkreis von 25 Metern für eineinhalb Sekunden Temperaturen von 1.400 Grad Celsius. Die Luft brennt. Es entsteht ein extreme Druckwelle. Das halte kein Körper aus, so der Experte.

Präsident Selenskyj hat vor einigen Tagen die Zahl der pro Tag getöteten ukrainischen Soldaten mit 50 bis 100 beziffert. Auch das US-Verteidigungsministerium habe vor kurzem eingeräumt, dass die Russen langsam aber stetig voranschreiten. Die Ukraine fordert daher vehement Raketenwerfer mit höherer Reichweite. Die US-Regierung erwog zuletzt die Artilleriesysteme MLRS und HIMARS zu liefern. Die Vereinigten Staaten zögern allerdings, weil die Ukraine mit diesen Waffen auch russisches Territorium angreifen könnte. Am Montag wurde bekannt, dass die USA die Lieferung derartiger Waffensysteme ausschließen.

Zusammenfassend sieht Reisner den Krieg in einer neuen Phase. Die erste Phase dauerte sechs von mittlerweile 14 Wochen. Sie war geprägt vom Großangriff des 24. Februar, auch auf die Hauptstadt Kiew, den die Ukrainer abgewehrt haben. In der zweiten Phase zog sich Russland im Norden zurück und konzentrierte sich auf den Donbass im Osten. Vergangenes Wochenende begann nach Einschätzung Reisners eine neue, dritte Phase.

"Die Russen haben zumindest lokal wieder die Initiative." Die Ukrainer hätten sich im Donbass eingegraben und würde ihre Stellungen tapfer und zäh verteidigen. Aber die russische Artillerie zermürbe sie: "Russland schießt eine nach der anderen ukrainischen Frontstellung sturmreif", sagt Reisner. Und sie hätten eine von zwei Versorgungsrouten der Ukrainer gekappt. Sie haben die Kontrolle über die wichtige Autobahn T1302 (von den Ukrainern die "Straße des Lebens" genannt), die die Zwillingsstädte Sewerodonezk und Lysychansk im Oblast Luhansk mit dem Oblast Donezk verbindet, übernommen. Zwar konnte die Russen noch mal zurückgedrängt werden, ihre Artillerie wirke jedoch auf die Straße und mache jede Bewegung unmöglich. Inzwischen spitzt sich die Situation in Sewerodonezk immer mehr zu.

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