Kanzler Alfred Gusenbauer präsentierte in Harvard seine Einschätzung des aktuellen transatlantischen Verhältnisses.
Seit dem Ende des Kalten Kriegen befinden sich die transatlantischen Beziehungen zwischen Europa und den USA in einer "Identitätskrise" - diese These vertrat Bundeskanzler Alfred Gusenbauer (S) am Donnerstagabend (Ortszeit) bei einem Vortrag an der Bostoner Harvard University. Zum Abschluss seiner einwöchigen USA-Reise reiste der Kanzler von New York nach Boston (Donnerstag) und Philadelphia (Freitag), und traf dort u.a. österreichische Akademiker der Vereinigung ASCINA (Austrian Scientists and Scholars in North America).
Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs war die Bedrohung der gemeinsamen westlichen Welt noch nicht überwunden, es kam aber zu einer Verschiebung der Szenarien und zu einer Neubewertung der Partnerschaft zwischen den USA und Europa, so Gusenbauer laut Redetext. Dieser Prozess sei auch nach über 15 Jahren noch nicht abgeschlossen, es gebe nach wie vor eine Identitätskrise auf beiden Seiten des Atlantik. In dieser Situation entwickelte sich in Europa schließlich auch die aktuelle Diskussion um die Definition der EU als Staatsgefüge oder als bloßer "Klub von Staaten". Hinzu kam und kommt die Debatte um die Grenzen der EU.
Auf der amerikanischen Seite des Atlantiks sehe Gusenbauer ebenfalls sehr ähnliche prinzipielle Debatten um das Selbstverständnis und das Verhältnis zum Partner am anderen Ende des Atlantiks. Der Irak-Krieg sei mehr als ein Konflikt, er weise auf die einzigartige Rolle der USA in der Welt hin und dessen Bestreben, "Verantwortung als Anführer in der Welt" zu übernehmen. "Was ist die richtige Mischung aus weicher Macht und harter Macht, behindert letztere die Ausübung von ersterer?"
In puncto Klimakrise habe sich Europa nun entschlossen, trotz der ungünstigen Rahmenbedingungen die Führungsarbeit zu übernehmen und stecke sich dabei sehr ambitionierte Ziele, wie man auch bei der am Montag über die Bühne gegangenen Klimadebatte in der UNO sehen könne. Und auch USA würden sich nun immer mehr bewusst, dass internationales Handeln nötig sei - entgegen ihrer bisherigen Haltung. Gusenbauer hoffe darauf, dass die USA sich nun zu einem "klaren Commitment" durchringen, um in der Folge eine globale, internationale Vereinbarung treffen zu können. "Die gemeinsame Führung durch Europa und die USA ist der allerwichtigste Faktor, um die Klimakrise zu überwinden", zeigte sich Gusenbauer überzeugt.
Im Zusammenhang mit dem Thema Iran wiederholte Gusenbauer die These, wonach Europa und die USA es versuchen sollten, bisher mit Teheran verbündeten Staaten eine "Alternative" in der weltpolitischen Positionierung anzubieten. So sei es sehr zu begrüßen, dass US-Außenministerin Condoleezza Rice Syrien für November zur Nahost-Konferenz eingeladen hat. Weitere arabische Staaten, die teilnehmen sollen, sind der Libanon, Jordanien, Ägypten, Saudi-Arabien und Katar. "Die iranische Führung muss verstehen, dass sie Vertrauen aufbauen muss, will sie nicht weiter isoliert werden", stellte der Bundeskanzler fest. "Die Mehrdeutigkeit des iranischen Nuklearprogramms, kombiniert mit der empörenden Rhetorik gegen Israel und der destabilisierende Einfluss des Iran flößen nicht Vertrauen ein." Die Einladung Syriens zur Nahost-Konferenz sei eine von den USA und Europa geschaffene Möglichkeit für Damaskus, "aus der Ecke zu kommen und ab nun eine konstruktive Rolle im Friedensprozess zu spielen".
In Bezug auf den Kosovo zeigte sich Gusenbauer hoffnungsvoll, dass die Verhandlungen der nächsten Wochen zu einem für den Sicherheitsrat - inklusive Russland - akzeptablen Ergebnis führen werden. "Die Stabilität der ganzen Balkanregion hängt von einer positiven Lösung des Kosovo-Konflikts ab. Der Ahtisaari-Plan bietet die einzige realistische Basis für eine dauerhafte Lösung", sagte der Bundeskanzler. Die Implementierung dieses Plans bedürfe dann wieder einmal der bewährten transatlantischen Zusammenarbeit. "Unilaterales Handeln könnte eine negative Auswirkung weit über den Kosovo hinaus haben", warnte er.
Am Freitagnachmittag (Ortszeit) bildet ein Vortrag Gusenbauers vor dem World Affairs Council in Philadelphia den Abschluss seiner einwöchigen USA-Reise. Außenministerin Ursula Plassnik (V) bleibt hingegen in New York, wo sie am Freitag für Österreich vor der UNO-Generalversammlung sprechen wird.