Wahl-Sensation ist greifbar

Kemal Kilicdaroglu: Dieser Mann will Erdogan stürzen

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Recep Tayyip Erdogan ist zwei Jahrzehnte an der Macht, jetzt könnte er vom Sockel stürzen.

Ankara. Bei den vergangenen Wahlen in der Türkei ist stets nur dar­über diskutiert worden, mit wie viel Vorsprung Langzeitpräsident Erdogan und seine islamisch-konservative Regierungspartei AKP gewinnen wird. Jetzt aber könnte es zur Wende kommen. Erdogan scheint seine Souveränität verloren zu haben.

Die Lebensmittelkosten haben sich verdreifacht, die Inflation liegt bei 50 Prozent. Inoffiziell soll sie aber doppelt so hoch sein. Das Management nach dem Erdbeben mit mehr als 50.000 Todesopfern war katastrophal. Die Unzufriedenheit mit der Regierung ist groß, die Wut gegen den Langzeit-Regenten und seine Partei enorm. Erdogan muss um die Macht kämpfen. Zum ersten Mal seit 2003 steht der Sieger nicht schon im Vorfeld fest.

Sechs gegen Erdogan: Bündnis als Siegturbo

Grund dafür ist der 74-jährige Kemal Kilicdaroglu, ein ruhiger, fast langweiliger Politiker, der noch nie eine wichtige Wahl gewonnen hat. „Onkel Kemal“, nennen sie ihn, „den türkischen Gandhi“. Der Anti-Erdogan. Als Redner war er viele Jahre ein Totalausfall, als Politiker wirkte der Bürokrat wie ein Steuerbeamter. Doch er ist integer.

Jetzt aber hat der Chef der Mitte-links-Partei CHP viele heiße Trümpfe in der Hand: Zur Überraschung aller und gegen heftigste Widerstände gelang es ihm, ein starkes Wahlbündnis aus sechs sehr unterschiedlichen Parteien zu formen.

Gegner. Am „Sechser-Tisch“ sitzen die größte Oppositionsgruppe CHP, die nationalkonservative Iyi-Partei und ihre Schwesterpartei DP, die AKP-Abspaltungen DEVA und GP sowie die islamistische SP.

Selbst die extrem populären Bürgermeister von Istanbul und Ankara, Ekrem İmamoğlu und Mansur Yavaş, zwei politische Alphatiere, konnte er in sein Wahl-Team einbinden: „Wir stehen kurz davor, den Tyrannen vom Thron zu stürzen, gemeinsam werden wir den Wahnsinn beenden“, glaubt er.

Entscheiden die 
Kurden die Wahl?

Voraussetzung für den Sieg ist, dass die fragile Opposition geschlossen bleibt. „Hoffnung“ ist sein Slogan. Er trifft den richtigen Ton. Viele Analysten rechnen mit einem Kopf-an Kopf-Rennen zwischen Erdogan und dem „Sechser-Tisch“. In einigen Umfragen liegt die Opposition sogar mit 55 Prozent in Führung.

Zünglein an der Waage wären somit die Stimmen der von Erdogan verhassten Kurden. Die kurdische HDP, bisher drittstärkste Partei, tritt wegen eines laufenden Verbotsverfahrens auf der Liste der Grün-Linken (Yesil-Sol Parti) an.

Selahattin Demirtas, Co-Chef der Partei und Anwalt, sitzt seit fast sieben Jahren im Gefängnis. Ihm wird Terrorismus vorgeworfen, bis zu 142 Jahre Haft drohen. Jetzt könnten die Stimmen der Kurden Erdogan stürzen – eigentlich ein Treppenwitz der Geschichte.

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