Offizielle Stellen beginnen an drei Punkten der Stadt mit der Ausgabe von Waffen und Munition. Die Menschen stürzen sich darauf.
Die von Kremlchef Wladimir Putin in Marsch gesetzten russischen Panzer walzen durch die Ukraine und treiben Zehntausende Menschen in die Flucht. Die Soldaten der militärischen Großmacht erreichen nach der Besetzung der radioaktiv verstrahlten Zone Tschernobyl am Freitag auch die Hauptstadt Kiew.
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In der Millionenstadt beginnt der Tag für viele nach einer schlaflosen Nacht und immer wieder hörbaren Explosionen zunächst vergleichsweise ruhig. Viele Menschen gehen zur Arbeit. Doch als bekannt wird, dass die russischen Soldaten einmarschieren, bricht Panik aus, wie ein Reporter der Deutschen Presse-Agentur berichtet.
Offizielle Stellen beginnen mit Verteilung von Waffen an Bürger
Viele Menschen begeben sich in eine Metrostation, die als Bunker dient. Sie suchen Schutz, haben nur das Nötigste dabei, manche Hunde oder Katze. Auch Bewaffnete sind zu sehen. Niemand weiß, was kommt. Klar ist nur, dass die Angst mit jedem Sirenengeheul, mit jedem hörbaren Knall, mit jeder Explosion unerträglicher wird. Offizielle Stellen beginnen an drei Punkten der Stadt mit der Ausgabe von Waffen und Munition. Die Menschen stürzen sich darauf.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj mal mit T-Shirt, mal mit Pullover im Militärlook meldet sich aus sicherer Position immer wieder per Videoclip zu Wort, kritisiert den Westen, der die Ukraine alleine lasse, nicht zu Hilfe komme. Und er ruft mit seiner rauen Stimme eines ehemaligen Schauspielers seine Landsleute auf, ihr Land zu verteidigen. Das Verteidigungsministerium rät den Kiewern, sogenannte Molotow-Cocktails - Brandsätze - zum Kampf vorzubereiten. Sie sollen Sichtungen über russische Militärtechnik melden. Die sozialen Netzwerke sind voll mit Bildern von rollenden Panzern.
Die Sicherheitslage in der Stadt mit den einst 2,8 Millionen Menschen, die wie leer gefegt ist, verschärft sich stündlich. Wer kann, flieht - aus Angst, bei möglichen Straßenkämpfen zwischen Ukrainern und Russen zwischen die Fronten zu geraten. Parallel streckt Selenskyj erneut die Hand nach Russland aus, bietet Putin zum zweiten Mal Friedensverhandlungen an. Diesmal schlägt er eine Neutralität der Ukraine vor, also den Verzicht auf einen von Russland bekämpften NATO-Beitritt des Landes. Ein guter Schritt, Putin stimmt zu, wie der Kreml am späten Nachmittag mitteilt.
Der Kremlchef hat den Beginn der beispiellosen Militäroperation stets damit begründet, dass er die über Jahre von den USA und anderen NATO-Mitgliedern hochgerüstete Ukraine "entwaffnen" wolle. Und er betont, es gehe Russland nicht um eine Besetzung des Landes oder Kiews, sondern um eine "Entnazifizierung". Die russische Führung ist überzeugt davon, dass sich gewaltbereite antirussische Neonazis in der ukrainischen Führung eingenistet hätten, an den Schaltstellen sitzen und jemanden wie Selenskyj, den auch in Russland lange populären Komiker, nur als nettes Gesicht zu benutzen.
Putin meint, jeder Name der russlandfeindlichen Kräfte sei bekannt. Er wolle sie vernichten - und ruft am Donnerstag in Moskau im Sicherheitsrat sogar die ukrainische Armee auf, die Macht in die Hand zu nehmen, um diese "Terroristen" loszuwerden. Die seit 2014 aktiven Kräfte des Rechten Sektor seien verantwortlich für den Konflikt in der Ostukraine, wo Putin die Gebiete Luhansk und Donezk inzwischen als unabhängige Staaten anerkannt hat. Aus Moskauer Sicht sind für Kiew diese Gebiete verloren. Wie es mit dem Rest des Landes weiter geht, ist unklar.
Als sicher gilt aber, dass eine Besatzungsmacht Russlands mit großem Widerstand der ukrainischen Bevölkerung, mit ständigen Terroranschlägen, mit einem dauerhaften Konfliktherd rechnen müsste. Schon jetzt sind Schaden und Schmerz für die oft familiär verbundenen Menschen der Ukraine und Russlands unermesslich. Viele Menschen in der ganzen Ukraine erleben jetzt Gewalt und Angst wie die Menschen im Donbass, wo sich ukrainische Regierungstruppen und prorussische Aufständische seit acht Jahren bekämpfen.
"Horror"
"Es ist unbeschreiblich, dieses Gefühl, wenn du das erste Mal hörst, wie Raketen pfeifen", erzählt die Kiewerin Marichka Kormuschkina der Deutschen Presse-Agentur am Telefon. "Dazu dieser Donnergroll, die Hubschrauber - das ist blanker Horror, da will man einfach nur weg." Kormuschkina wohnt eigentlich im Norden Kiews, in einem Hochhaus in der 24. Etage. "Da ist der Weg in den Keller aber einfach zu weit, runter wie auf", sagt die Ukrainerin zur Deutschen Presse-Agentur. Sie und ihre erwachsene Tochter seien bei Verwandten im Westen der Stadt in einem privaten Haus untergekommen.
Mehrere männliche Bekannte hätten sich in die Armee eingeschrieben - der Mann einer Freundin, der Vater einer Freundin ihrer Tochter, ein Verwandter, der bei der Polizei war. "Sie wollen ihr Land verteidigen", sagt sie. Auch sie bleibe im Land. "Wir halten durch."
In der ostukrainischen Stadt Charkiw hat Ewgenija Andreewna die Nacht mit ihrer Familie in einem Luftschutzbunker verbracht. "Es kamen immer mehr Menschen, je länger die Nacht dauerte", erzählt sie über Whatsapp. "Alle kamen mit ihren Haustieren." Sie habe weder schlafen können, noch einen Bissen runtergebracht seit dem Angriff Russlands.
Die Menschen in ihrer Umgebung seien alle wie Schlafwandler, die nicht zu sich kommen könnten - oder wollten, angesichts dessen, was passiert sei. "Aber wir sind stolz auf unsere Streitkräfte und unterstützen sie, wo wir können, danken ihnen für ihren Schutz", erzählt die 34-Jährige weiter. Niemand versuche auch nur, zu erraten, was noch kommen möge. "Wir sind alle wie erstarrt."
Die 25 Jahre alte Angestellte Julia Muchina in Charkiw erzählt über Facebook Messenger, sie sitze in einer U-Bahn-Station im Norden der Großstadt. "Zwei Stunden bereits wird die Stadt beschossen." Die Stimmung sei insgesamt unheimlich. "Es gibt lange Schlangen vor Supermärkten und Geschäften, mancherorts ging das Benzin aus."