Mit den Lockerungen würden die Neuinfektionen sofort wieder nach oben klettern, warnten Experten. Doch die Zahlen bleiben stabil. Dürfen wir uns tatsächlich schon freuen, oder ist es noch zu früh?
Wien. Die ersten Masken fallen: Die Bundesregierung hat am Freitag weitere Lockerungsschritte der Corona-Maßnahmen ab 15. Juni bekannt gegeben. Die Sperrstunde in der Gastronomie wird auf 1.00 Uhr verlegt, außerdem fällt das Vier-Personen-Limit. Die Maskenpflicht in Schulen und im Handel fällt, sie soll nur noch in drei Bereichen gelten, gab Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) bekannt. Masken sollen demnach nur noch in öffentlichen Verkehrsmitteln, im Gesundheitsbereich inklusive der Apotheken sowie bei Dienstleistungen getragen werden, wo der Mindestabstand von einem Meter nicht eingehalten werden kann, beispielsweise beim Friseur oder von Mitarbeitern in der Gastronomie. Das Tragen von Mund-Nasen-Schutz in Schulen und im Handel ist somit Mitte Juni beendet.
Hintergrund der weiteren Lockerungen sind die weiter sinkenden Zahlen der Neuinfektionen. "Wir sind auf einem guten Weg", konstatierte Kurz. "Die Menschen in Österreich haben viele Opfer erbracht" und hätten ermöglicht, "dass wir heute so gut dastehen". Der Bundeskanzler kündigte "weniger Regeln, mehr Eigenverantwortung" an.`Experten warnten vor zu voreiligen Entscheidungen bei den Lockerungen der Corona-Maßnahmen – Dürfen wir uns tatsächlich schon freuen oder ist es noch zu früh?
Reproduktionszahl unter 1 in Österreich
Ein wichtiger Faktor für Experten-Prognosen bezüglich der möglichen Entwicklungen das neuartige Coronavirus betreffend ist nach wie vor die Analyse der Reproduktionszahl. In Österreich sank sie weiter unter 1,0. Am 27. Mai lag sie sogar bei "nur" 0,9, teilte die Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) am Wochenende mit. Auch in Niederösterreich und Wien – beide Bundesländer galten als "Sorgenkinder" bei der Entwicklung der Infektionszahlen – lag die Reproduktionszahl vergangene Woche bei unter 1,0.
Die Reproduktionszahl ist eine Schätzung der durchschnittlichen Zahl der Fälle, die von einer infizierten Person ausgehen. Liegt die Zahl über 1,0, nimmt die Zahl der Infektionen kontinuierlich zu, liegt sie darunter geht die Zahl der Infektionen zurück. Für den Schätzwert werden die vorangegangenen 13 Epidemietage herangezogen. Für Tage an denen die Schätzung der effektiven Reproduktionszahl auf weniger als zwölf Fällen beruhen würde, führt die AGES wegen fehlender Zuverlässigkeit keine Schätzung durch.
Experten warnen vor steigenden Infektionszahlen
Trotz der stetig sinkenden Zahlen an Neuinfektionen wurden immer wieder Stimmen von Experten laut, die vor einer möglichen zweiten Welle warnten. So erklärte WHO-Regionaldirektor Hans Kluge, dass sich die europäischen Staaten trotz der Lockerungen der Corona-Maßnahmen für eine zweite tödliche Welle wappnen sollten. "Es ist Zeit für die Vorbereitung, nicht für Feierlichkeiten", erklärte Kluge erst vor wenigen Tagen. Besonders besorgt äußerte sich der WHO-Regionaldirektor über die Möglichkeit einer "Doppelwelle". "In dem Fall könnten wir eine zweite Covid-Welle haben und eine saisonale Grippe oder die Masern." Viele Kinder seien nicht gegen die Masern geimpft, warnte Kluge. Die Länder müssten die Zeit nun nutzen, um ihr Gesundheitswesen zu stärken und zum Beispiel die Kapazitäten in Krankenhäusern auszubauen.
Kluge äußerte sich ebenfalls kritisch über die Lockerungsmaßnahmen in den besonders schwer betroffenen Staaten wie Großbritannien, Frankreich und Italien. Hier würden die Fallzahlen zwar stetig zurückgehen – "Das bedeutet allerdings nicht, dass sich die Pandemie dem Ende nähert", erklärte Kluge.
Gesundheitsminister Anschober optimistisch
Anschober: „Die ersten vier Öffnungsschritte (14.4., 1.5., 15.5. und 18.5.) haben sich nicht negativ auf die Entwicklung der Pandemie in Österreich ausgewirkt. Ich hoffe, dass die Entwicklung auch nach der aktuellen Öffnung vom Freitag (Hotels, Freizeit, Kultur) so stabil bleibt. Aussagen zu deren Auswirkungen werden wir in frühestens zwei Wochen treffen können.
In der ersten Junihälfte werden wir eine umfassende Evaluierung der Entwicklung der Pandemie in Österreich durchführen. Dann hoffen wir darauf, einen ersten Ausblick für den Herbst geben zu können.“ Anschober abschließend: „Ich bin zuversichtlich, dass wir eine 2. Welle vermeiden können, wenn wir erstens weiterhin alle konsequent die Hygienebestimmungen, den Mindestabstand und die Auflagen bei den Öffnungsschritten einhalten, wenn wir zweitens sofort und entschieden reagieren, sobald sich wieder eine negative Entwicklung erkennen lässt und wenn wir drittens bei jedem auftretenden Fall schnell und konsequent mit Containment 2.0 reagieren - also mit umfassenden Testungen und raschem Kontaktpersonenmanagement, um jede Ausbreitung zu verhindern.“
Regierung will am Mittwoch Reiselockerungen verkünden
Die Bundesregierung will am Mittwoch weitere Lockerungen bei den Reisebeschränkungen verkünden. Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) berät mit Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne), Europaministerin Karoline Edtstadler und Innenminister Karl Nehammer (beide ÖVP) zur schrittweisen Wiederherstellung der Reisefreiheit, anschließend ist eine Pressekonferenz angekündigt.
In erster Linie soll es laut Außenministerium um die unmittelbaren Nachbarländer gehen. Die Mitte März vorübergehend eingeführten Einreisebeschränkungen seien "wichtig und richtig" gewesen, wie sich in der sehr guten Entwicklung der Infektionszahlen zeige, erklärte Schallenberg in einer Stellungnahme. Angesichts der positiven epidemiologischen Zahlen könne die Regierung nun "die zeitnahe Rücknahme der Grenzkontrollen zu den meisten unserer Nachbarländer konkret ins Auge fassen".
Der Außenminister sprach von einer "erfreulichen Entwicklung", weitere Schritte sollen folgen. "Dennoch müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass wir noch weit entfernt von einem Normalzustand sind. Der Sommerurlaub 2020 wird anders als die letzten. Das sagt uns schon der Hausverstand", betonte Schallenberg.
Mit Deutschland, der Schweiz und Liechtenstein hat Österreich bereits eine vollständige Grenzöffnung ab dem 15. Juni vereinbart. Die Einreisebeschränkungen zu Tschechien, der Slowakei und Ungarn dürften ebenfalls Mitte Juni fallen. Die vier Länder waren bereits vergangene Woche darin im Prinzip übereingekommen, eine genaues Datum fehlt aber noch. Vor allem die Slowakei hat bisher bei der Grenzöffnung gebremst.
Hoffnung auf eine Grenzöffnung machen kann sich offenbar auch Slowenien, das bisher vergeblich auf positive Signale aus Wien wartet. "Die Entwicklung mit Slowenien ist sehr positiv und ich glaube, dass wir hier auf einem sehr guten Weg sind", erklärte Schallenberg nun, sagt aber dazu: "Klar ist, dass wir faktenbasiert vorgehen und die Grenzkontrollen so kurz wie möglich, aber so lange wie nötig aufrechterhalten wollen".
Gegenüber Italien, das seine Einreisebeschränkungen bereits am Mittwoch zurücknimmt, äußerte sich der Außenminister weiterhin zurückhaltend. "Wie auch schon der Gesundheitsminister am Donnerstag klar gesagt hat, beobachten wir die Entwicklungen in Italien ganz genau. Besonders die Krisenregion Lombardei und die umgebenden grenznahen Regionen zu Österreich."