Werner Schneyers neues Buch "Krebs" - Das 3. Kapitel
Natürlich gehen wir jetzt nur mehr zum Krebspapst, zu Prof. Petrosjan.
Aber
nicht mehr in die Universitätsklinik. Irgendwann einmal hat der liebe und
besorgte Prof. Petrosjan gesagt, lassen Sie sich im Labor die Werte machen
und kommen Sie damit zu mir in die Praxis. Diese Lebensqualität im Kampf
gegen den Tod will man natürlich nicht missen. Man legt bei der eleganten
Empfangsdame pro regelmäßiger Begegnung einen erstaunlichen Betrag ab, um
sich über sein Befinden unterhalten zu können oder sich Werte von einem
Laborblatt vorlesen zu lassen, die man im Grund auch selbst lesen und sogar
bewerten könnte, zumal die Normwerte da stehen und die Abweichungen
telefonisch übermittelbar wären.
Aber Überlegungen dieser Art
verbieten sich, wenn man Angst hat. Wenn man keine hat, stellt man sie nicht
an. So erklärt sich der unveränderbare Graubereich zwischen der ärztlichen
Betreuung im Krankenhaus und in der Privatpraxis von ein und demselben Arzt.
Prof. Petrosjan verordnet schwere Antibiotika. Freund Rainer sagt mir am
Telefon, die hätte er auch gegeben. Nach einer Woche werden die Werte wieder
kontrolliert. Sie sind nicht besser (…).
Die Nächte setzen sich
aus zehnminütigen Schlafversuchen zusammen. Ich liege im Zimmer daneben. Die
Türe ist offen. Ich muss hören, wie sie aufsteht. Ich muss wissen, wie sie
zurückkommt. Manchmal frage ich. Manchmal nicht. Ich kann das Gefühl nicht
loswerden, dass der Dr. Steinitz, der Urologe in der Provinz, recht gehabt
haben muss (Anm.: Er diagnostizierte neben Blasen- auch Magenkrebs). Aber
dieser Verdacht ist objektiv nicht zu rechtfertigen.
Sie hat mir
erzählt, dass Prof. Petrosjan beim letzten Besuch in der Praxis beinahe
ungehalten war, als sie selbst diesen Verdacht äußerte. Sie haben keinen
Krebs!, hatte er wortwörtlich und mit einer kleinen Schärfe gesagt und diese
Aussage mit den letzten von Prof. Kann gelieferten Werten begründet. Die
Computertomografie zeigt nichts Verdächtiges, der Tumormarker ist
einwandfrei (…).
An Schlafen ist nicht mehr zu denken. Die Nächte
sind makabrer Slapstick, eine perverse Scheißhausgroteske (…).
Der
Anruf kommt. Ich bin noch nicht angetrunken. Rainer sagt, er hat mit Prof.
Lasker gesprochen. Es steht fest: Sie hat keine Chance. Es ist nur mehr eine
Sache von vier, fünf Monaten. Ich bringe eine Frage heraus: Und was bringt
eine Chemotherapie? Rainer spricht von sinnloser Verlängerung. Er nennt
einen maximalen Zeitrahmen. Ich bin mir nicht mehr sicher, welchen, daher
gebe ich ihn nicht wieder. Aber er schien mir kein Weiterleiden zu
rechtfertigen. Das weiß ich noch genau (…).
Rainer weiß, es
sind nicht nur die Lymphknoten befallen. Die ganze Bauchhöhle ist voll von
Metastasen. Das ist kein Karzinom, erfahre ich, sondern – ich höre ein mir
neues Wort – eine Karzinose. Meine Laieninterpretation heißt: über und über
verseucht. Es wird nicht widersprochen (…).
Viele, manchmal alle
Freundinnen und Freunde, reden ihr zu, die Chemotherapie zu machen. Die
Geschichten von Fällen, die mit Gesundheit, mit Besiegen geendet hätten,
häufen sich. Ich habe die Gespräche mit Rainer im Ohr. Die Fragestellung:
Lebenserwartung X, Lebensverlängerung Y. Rechtfertigt Y den ungeheuren
Lebensqualitätsverlust in X? Ich kenne sie. Für sie wäre die Kahlköpfigkeit
eine unerträgliche Folter.
Mit welchem Recht willich über ihre
Entscheidung verfügen?