Fehlende Toiletten imd Stecksoden sind alltägliche Probleme.
Klagenfurt. Es nieselt und die feuchte Winterkälte zieht den Mitgliedern der Schülergruppe bis in die Knochen, während sie vom ehemaligen Obdachlosen Samuel durch die Klagenfurter Innenstadt geführt werden. Das passt auch ganz gut so, meint Samuel: "Wenn ich diese Touren im Sommer mache, könnte man ja fast auf die Idee kommen, dass Obdachlosigkeit ja gar nicht so schlimm ist."
"Stories from the Sidewalk" ("Geschichten vom Gehsteig") heißt die Tour der Caritas, bei der Interessierte die Stadt aus einer neuen Sicht kennenlernen - eben aus der eines Obdachlosen. Samuel, der eigentlich anders heißt, geht rückwärts, damit er die Gruppe immer im Blick hat und arbeitet routiniert und abgeklärt wie ein Touristen-Guide die Schauplätze ab. Es sind Orte, an denen man oft nichtsahnend vorbeigeht, die aber für obdachlose Menschen eine große Bedeutung haben. So wie etwa ein paar "geheime" Steckdosen an einem Trafokasten, wo Leute ohne Wohnung ihre Handys aufladen können. Wo genau die sich befinden, möchte Samuel nicht veröffentlicht wissen: "Die Gefahr ist da, dass es die dann in ein paar Tagen gar nicht mehr gibt."
Steckdose als Geheimtipp
Dass es für Obdachlose natürlich schwer ist, an Strom zu kommen, ist ein logischer Gedanke - gleichzeitig kommt die Erkenntnis, wie wenig man sich eigentlich selbst damit beschäftigt, wenn man stets von Möglichkeiten zum Handyaufladen umgeben ist. Es sind oft alltägliche Kleinigkeiten, die Obdachlose vor Herausforderungen stellen: "Kinder fragen oft als allererstes, wo wir überhaupt aufs Klo gehen. Und das ist tatsächlich eine wichtige Frage", sagt Samuel. Die Beantwortung fällt ernüchternd aus, denn in ganz Klagenfurt gebe es nur drei öffentliche Toiletten, bei denen man nicht 50 Cent für den Eintritt bezahlen muss - "und das ist schon viel Geld, wenn man auf der Straße lebt".
Zumindest in der Nacht ein Dach über den Kopf haben können Obdachlose in der Notschlafstelle der Caritas in der Kaufmanngasse. Hier, im Eggerheim, landen jene, die schon länger wohnungslos sind oder auch ganz plötzlich ohne Zuhause dastehen. Sie können erst einmal ihr Hab und Gut in eigenen Spinden verstauen, bekommen etwas zu essen, können duschen und sich aufwärmen. Und: Sie können die Adresse der Notschlafstelle als Meldeadresse angeben. "Im Schnitt haben wir pro Nacht 25 bis 40 Leute bei uns", erklärt Sozialarbeiter Martin Göhler, während er durch das Gebäude führt. Am Eingang stapeln sich Kisten mit Sachspenden, Apfelmusgläser, Ketchuptuben, Bohneneintopfdosen. An einer Wand prangen Zettel mit günstigen Wohnungsangeboten.
Nach der Obdachlosigkeit wieder in eine Wohnung zu kommen - das hat Samuel geschafft. Mehr als vier Jahre lang war er insgesamt obdachlos. Die Gründe? Einmal war es eine Wohngemeinschaft, die sich plötzlich auflöste, einmal war er mit der Miete im Rückstand. Oft sind beendete Beziehungen Gründe, warum man plötzlich keine Unterkunft mehr hat und länger obdachlos bleibt. Oder, wie im Fall von Samuel, Überforderung, wie er unumwunden zugibt: "Für mich war es einfacher, mich von Tag zu Tag zu hanteln als mit der Bürokratie rund um die Sozialhilfe zurechtzukommen."
Der Konsum und die Probleme
In der Notschlafstelle spielen die Gründe für Obdachlosigkeit zuerst einmal keine Rolle, aufgenommen wird jeder und jede. Sie übernachten in Stockbetten, fünf davon stehen in dem nächsten Raum, durch den Göhler führt. Ein paar Bilder von Bäumen und Laub hängen an den Wänden, sonst gibt es keine Möbel. Es gibt wenige Regeln, an die man sich im Eggerheim halten muss - was deren Einhaltung angeht, ist man aber streng. Gewalt wird mit Hausverbot geahndet - ebenso wie Konsum von Alkohol oder Drogen in den Räumlichkeiten.
Eben dieser Konsum ist es auch, der oft zu Konflikten im öffentlichen Raum führt. Samuel sieht das pragmatisch: "Viele konsumieren ja nicht, weil sie wollen, sondern weil sie müssen." Sucht führe gleichzeitig dazu, dass man immer weiter in einen vernichtenden Strudel gerät - die Klarheit darüber war wohl auch etwas, das Samuel den Sprung zurück zu einer Teilzeit-Stelle als Hausmeister und einer eigenen Wohnung verholfen hat. "Außer Alkohol und Marihuana habe ich als Obdachloser nichts konsumiert. Und ich bin nüchtern geblieben, wenn es mir schlecht gegangen ist."
Neben den langfristigen hat verbotener Konsum aber auch kurzfristige Folgen. Das Alkoholverbot in der Klagenfurter Innenstadt und am Bahnhof - Samuel spricht von "Vertreibungspolitik" - wird streng exekutiert. Schnell sind Geldstrafen ausgesprochen, berichtet er, während er durch die leeren Klagenfurter Parks führt. Strafen, die Obdachlose nie im Leben bezahlen können. Werden sie erwischt, sitzen sie diese eben mit einer Ersatzfreiheitsstrafe im Polizeianhaltezentrum ab: "Manche timen es so, dass sie dort einige Zeit im Winter über die Runden bringen." Eigentlich eine paradoxe Situation - denn auch ein Aufenthalt im Anhaltezentrum kostet wieder Geld.
Die Jagd nach Erholung
Um Geld geht es auch bei der nächsten Station, dem Wörtherseemandl-Brunnen in der Innenstadt. Die Leute werfen im Sommer Münzen hinein und wünschen sich etwas - Obdachlose fischen die Münzen dann heraus. "Das sind vielleicht ein, zwei Euro. Aber damit gehen sich schon drei Bier aus, damit ist der Tag für manche schon gerettet", sagt Samuel.
Oft ist es auch so, dass Obdachlose den Kontakt mit den Institutionen komplett scheuen. Für sie ist der Vinzibus, der jeden Abend nahe den City Arkaden hält, eine Anlaufstelle: Ohne großes Tamtam gibt es hier Tee, belegte Brote, Suppe und ein paar nette Worte. Wie die Leute dann ohne Notschlafstelle über die Runden kommen? Viele schlagen sich die Nacht irgendwie um die Ohren und versuchen dann, untertags zu schlafen. Aber erholsam ist das nicht - ständig frage man sich, wie die Leute auf einen reagieren, ob man vielleicht attackiert wird, was mit seinen Sachen passiert, wenn man einschläft. Oder, wie es Samuel formuliert: "Es ist eine ständige Jagd nach der Erholung. Wie ein einziger, langer Tag, der niemals endet."
Keine Dauerlösung
Eine Auszeit davon gibt es in der Notschlafstelle. Mit Betonung auf "Not", denn die, bekräftigt Göhler, soll eben genau das sein: Eine Not-, und keine Dauerlösung. Eine Perspektive zu geben stehe bei allen Gesprächen im Vordergrund, mit den Leuten auch nach der Obdachlosigkeit im Kontakt zu bleiben, sei besonders wichtig. Das funktioniere etwa durch den "Wäscheservice" für Klienten der Notschlafstelle: "Man kann bei uns Wäsche abgeben und bekommt sie gewaschen und getrocknet zurück." Wenn die Leute das in Anspruch nehmen, sei das ein gutes Zeichen: "Dass sich die Leute um Sauberkeit kümmern, außerdem schadet schmutzige Kleidung der Gesundheit." Hinzu kommt, dass bei jenen, die den Sprung zurück in eine Wohnung schaffen, eine teure Waschmaschine erst ganz unten auf der Prioritätenliste steht: "Über die Wäsche können wir in Kontakt bleiben."
Das Eggerheim ist die einzige derartige Institution in Kärnten. Neben der Betreuung von Menschen hat man es sich auch zur Aufgabe gemacht, einen Einblick in die Situation von Obdachlosen zu geben. Eben mit den Führungen von Samuel, der einen einzigartigen Blick vermitteln kann - einer, der einem allzu oft fehlt, wenn man selbst ein Dach über dem Kopf hat.