4. Teil

Nataschas Gedanken zur Flucht

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Im vierten Teil der Interview-Serie schildert Natascha Kampusch erstmals im Detail ihre Gedanken, die zur Flucht führten.

Wie Natascha ihrem Peiniger Wolfgang Priklopil am 23. August entkam, ist bekannt: Sie nütze einen unachtsamen Moment des Mannes, rannte weg, sprang über Zäune, flehte eine fremde Frau um Hilfe an, die sie allerdings nicht verstand. In Todesangst und Panik, dass Priklopil sie entdecken und zurückholen könnte. Im vierten Teil des ÖSTERREICH-Interviews spricht sie nun erstmals im Detail über ihre Gedanken, die zur Flucht führten. Und darüber, warum sie sich "schon früher" einfach nicht getraut hätte, zu fliehen.

ÖSTERREICH: Frau Kampusch, Sie haben in Gefangenschaft sehr viel geschrieben, sich persönliche Notizen gemacht. Haben Sie auch einen idealen Fluchtzeitpunkt notiert?
Natascha: Ja, ich denke schon. Ich glaube, ich habe schon ein oder sogar zwei Monate vor der Flucht etwas Diesbezügliches notiert, darauf haben mich die Polizeibeamten später aufmerksam gemacht. Ich habe mir dazu etwas in einen Kalender eingetragen.

ÖSTERREICH: Bestand keine Gefahr, dass Herr Priklopil in Ihren Kalender schaut?
Natascha: Nein. Es stand ja nicht so drinnen, dass er es verstehen hätte können. Es waren mehr so Gedankennotizen, die ich eingetragen habe.

ÖSTERREICH: Also der Fluchtgedanke zu dieser Zeit war da?
Natascha: Ja. Ich habe mir gedacht, besser oder schlechter kann es nicht mehr werden, selbst wenn er mich umbringt.

ÖSTERREICH: Die Frage, die für viele scheinbar im Raum steht, ist: Warum sind Sie nicht schon früher geflüchtet? Angeblich hätten Sie mehrmals die Gelegenheit dazu gehabt?
Natascha: Es gab zu einem früheren Zeitpunkt einfach keine richtige Möglichkeit zur Flucht, weil ich entweder eingesperrt war, bzw. er mir so nahe war, dass er mich sofort gepackt hätte, mich niedergeschlagen hätte, so dass ich mich nicht mehr rühren kann. Und die Konsequenz wäre natürlich immer gewesen, dass er mich dann ganz knapp hält. Wahrscheinlich hätte er mich wie einen Hund gehalten.

ÖSTERREICH: Hat Herr Priklopil ihnen damit gedroht, falls Sie versucht hätten, zu flüchten?
Natascha: Ja, davon hat er gesprochen. Er hat davon gesprochen, dass er mich, wenn ich irgendeinen Fluchtversuch unternehmen sollte oder schreien sollte, niederschlägt. Und mich dann ganz lange einsperrt, bis ich wieder vernünftig bin.

ÖSTERREICH: Sie waren zu eingeschüchtert, um auch nur an Flucht zu denken?
Natascha: Er hat auch gedroht, dass er alle Leute, die meinen Fluchtversuch mitbekommen würden, auch umbringt. Und sollte ich tatsächlich fliehen, dann würde er mich suchen und alle möglichen Leute umbringen. Ja, solche und ähnliche Sachen hat er eben gesagt.

ÖSTERREICH: Haben Sie, nur für sich persönlich, nach Ihrer Flucht darüber geschrieben?
Natascha: Ich würde gerne darüber schreiben. Aber ich habe im Moment noch keine Ruhe gefunden. Entweder ist es so, dass meine Hand zittert, oder es ist so, dass ich sehr erschöpft bin, oder ich habe Kopfweh. Und dann fehlt mir jetzt einfach auch die Zeit und Muße dazu. Ich suche nach dem richtigen Format für das, was ich schreiben möchte. Und auch noch nach den richtigen Formulierungen.

ÖSTERREICH: Schreiben kann wie eine Seelen-Therapie sein. Ich nehme an, man hat sie bereits öfter gefragt, ob sie nicht ihre ganze Geschichte aufschreiben möchten?
Natascha: Ja. Ich könnte mir auch vorstellen, unter verschiedenen Pseudonymen zu schreiben. Meine Autobiografie würde ich natürlich unter meinem Namen schreiben, aber dafür ist es jetzt noch zu früh. Obwohl viele Menschen meinen, dass ich schon so viel erlebt habe, wie andere Leute nicht einmal mit 60 Jahren. Vielleicht schreibe ich später Bücher unter einem anderen Namen.

ÖSTERREICH: Das klingt, als möchten Sie die echte Natascha Kampusch lieber vor der Öffentlichkeit verstecken?Natascha: Naja, es ist teilweise natürlich schon sehr störend, plötzlich auf der ganzen Welt bekannt zu sein. Die Leute begegnen mir nicht sehr, wie soll ich sagen, unbefangen. Viele sind besonders schüchtern oder besonders aufdringlich. Das hat sich auch gestern wieder gezeigt. Ein Passant hat versucht, mich mit seinem Foto-Handy zu fotografieren, ich habe mich richtig verfolgt gefühlt. Solche Situationen sind furchtbar. Es belastet mich auch, dass es scheinbar Leute gibt, die mich um mein Schicksal beneiden.

ÖSTERREICH: Was sollen das für Leute sein, die Sie um diesen Albtraum beneiden?
Natascha: Solche Menschen gibt es. Sie können sich wahrscheinlich nicht vorstellen, was mir in all diesen Jahren passiert ist und finden vielleicht, ich mache mich damit wichtig. Aber erstens, ist mein jetziges Leben auch nicht gerade rosig. Und zweitens können sie ja gerne mit mir tauschen, falls sie so viel Druck überhaupt aushalten können. Oder anders gesagt: Ich würde es diesen Menschen zwar nicht wünschen, aber sie sollten sich nur einen Tag lang in mein altes Leben versetzen lassen.

ÖSTERREICH: Sie genießen es offensichtlich nicht, im Blickpunkt der Öffentlichkeit zu stehen?
Natascha: Nein, denn ich habe mir die Öffentlichkeit nicht ausgesucht, ich wollte nicht bekannt werden. Aber ich werde damit zurechtkommen. Kennen Sie das Kinderbuch vom kleinen "Ich bin ich"?

ÖSTERREICH : Ja. Das kleine "Ich bin ich" ist sehr stark und lässt sich von niemandem unterkriegen.
Natascha: Genau so ist es. Ich bin auch ich.

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