Wilhelminenberg

Opfer spricht: "Meine Hölle als Heimkind"

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Heim-Opfer Marianne über Folter, Sex und 
ihr Leben am Abgrund.

Perry hat Marianne Kogler (Name geändert) das Lächeln zurückgebracht. Perry, das ist ein kleiner Chihuahua. „Wenn sie so schaut mit den Glupschaugen, höre ich auf, aggressiv zu sein“, sagt die 59-jährige Wienerin fast schüchtern im Gespräch mit ÖSTERREICH.

Marianne ist keine Frau großer Gefühle, das Leben hat sie gelehrt, ihre Seele zu verschließen, hart zu sein, alles Leid hinzunehmen wie eine göttliche Strafe.

Die Schmerzen in ihrem Leben kamen alle von Menschenhand. Marianne ist eines jener ehemaligen Heimkinder, deren Schicksal seit Tagen die Öffentlichkeit schockiert. Sie war in den 1960er-Jahren im Schloss Wilhelminenberg, mittlerweile nur noch unter dem Namen „Heim des Grauens“ bekannt. Über Jahre soll es hier zu systematischen Vergewaltigungen gekommen sein, die Schlafsäle der kleinen Mädchen sollen von Männern sexuell regelrecht geplündert worden sein. Zwei Opfer deckten den Skandal auf, nun melden sich täglich mehr Opfer, die all die schrecklichen Vorwürfe bestätigen. 434 sind bereits registriert, der Opferschutz-Verein Weisser Ring (Tel. 01/4000-85918) und die Kinder- und Jugendanwaltschaft (Tel. 01/7077000) können sich vor Anrufen kaum retten.

Tausende Opfer
Auch Marianne will nun reden, doch ihr Fall ist nicht nur einer von vielen. Sie war in derselben Kindergruppe wie Eva L. und Julia K., jene Schwestern, die den Skandal aufdeckten. Und: Auch ihre Kinderseele wurde im Heim zerstört.

Marianne war ein Opfer im Dunkeln, Tausende gibt es wohl davon. Sie hat noch nie von ihren Schmerzen gesprochen, dachte, was ihr passiert, sei „normal“. Mittlerweile sieht sie es klar: Sie wurde missbraucht, gefoltert, gedemütigt, sexuell für alle Zeit verkrüppelt.

Gerechtigkeit für die Opfer
Jetzt darf sie ihre Seele einen Spalt öffnen, will sogar über das Erlebte sprechen und sich auch bei einer Opfereinrichtung melden. „Wenn es so etwas wie Verantwortung für die Heimleitung geben könnte oder auch für die Täter, das wäre wirklich schön“, sagt sie. Ihrer Stimme aber fehlt noch die Überzeugung. „Nie wurde auf meine Wünsche eingegangen, warum sollte es jetzt plötzlich anders sein?“

Doch die Stadt Wien hat „lückenlose Aufklärung“ versprochen. Ändern lässt sich nichts mehr.
 

Das große ÖSTERREICH-Interview:

Marianne Kogler war seit ihrem dritten Lebensmonat Heimkind. Und ging im Heim am Wilhelminenberg durch die Hölle. Das erschütternde Interview.

ÖSTERREICH: Frau Kogler, Sie hatten nie eine Familie, Ihre Mutter gab Sie mit drei Monaten weg. Was ist Ihre erste Erinnerung ans Wilhelminenheim?
Marianne Kogler: Zuerst war es toll, wir waren die Ersten, die im Wilhelminenheim waren, als es zum Mädchenheim wurde, das war 1961. Mit Autobussen wurden wir dorthin gebracht, das war ein Abenteuer.

ÖSTERREICH: Wann war das Abenteuer im Heim vorbei?
Kogler: Da war ich vielleicht acht Jahre alt, es fing alles an, als die neue Heimleiterin kam. Plötzlich war dieser Mann, ein Arbeiter, immer da. Er griff uns Mädchen beim Duschen an, lachte, strich über unsere durchsichtigen Nachthemden und so …

ÖSTERREICH: Waren Sie auch von anderen Übergriffen betroffen?
Kogler: Irgendwann zu dieser Zeit wachte ich auf der Stiege auf, ich blutete aus dem Unterleib und musste in die Krankenstation, die „Gitsch“, wie wir sagten, gebracht werden. Da musste ich auf diesen Stuhl und musste mein Höschen ausziehen – seitdem hatte ich mein Leben lang panische Angst vorm Frauenarzt.

ÖSTERREICH: Sie waren damals erst acht Jahre alt … Können Sie sich auch an Vergewaltigungen erinnern, bei denen Männer in der Nacht kamen?
Kogler: Ja, das gab es alles. Zuerst wurden immer Lichtzeichen gegeben auf der Wiese unter dem Schloss, dann gingen plötzlich die Fenster zum Schlafsaal auf und die Burschen oder Männer kamen. Das passierte oft. Ich konnte mich aber oft im Klo verstecken, weil ich es früh genug mitbekam.

ÖSTERREICH: Aber Sie sind der sexuellen Gewalt trotzdem nicht entgangen, oder?
Kogler: Nein, einmal hat mich der Hausmeister in seinem Portierhäuschen ins Bett gelegt und sich darauf. Er hat gesagt, ich krieg etwas von der grünen Bensdorp-Schokolade. Ich liebte diese Schoko und hatte ja kein Geld. Er lag auf mir und stöhnte – ich hab immer nur die grüne Tafel angesehen. Ich weiß noch, dass er nach Bier und Schweiß stank.

ÖSTERREICH: Die Heimleitung hat Sie nicht geschützt vor diesen Übergriffen?
Kogler: Nein, aber ich dachte damals auch, dass das eben normal sei. Ich dachte auch, dass die Strafen dazugehören würden. Wenn ich meinen grausigen Grießschmarren mit den Rosinen nicht essen konnte oder brechen musste, dann gingen die Erzieherinnen mit hinauf in den Waschsaal, ließen Wasser in die Becken und tauchten meinen Kopf so lange so oft hinein, bis ich fast erstickt bin. Oder sie prügelten mich mit dem großen Schlüssel – ich habe heute noch Narben davon.

ÖSTERREICH: Sie hatten auch einen Bruder, der ebenfalls im Heim war …
Kogler: Ja, der Peter. Er war ein Jahr älter und im Heim in Eggenburg. Manchmal durften wir uns mit Erziehern auf einen Kakao treffen. Ich mochte ihn sehr.

ÖSTERREICH: Was ist dann passiert?
Kogler: Plötzlich gab es keinen Kontakt mehr, das wunderte mich, aber ich konnte nichts tun. Dann, es war an dem Abend, als im Fernsehen kam, dass dem Karl Schranz seine Goldmedaille aberkannt worden war, sah ich ihn.

ÖSTERREICH: Was sahen Sie …?
Kogler: Einen großen Beitrag über den Mordfall. Peter und ein Zweiter waren im Heim ermordet worden, mit einem Hackbeil massakriert, und dann sind sie von zwei Heimkindern in die Jauchegrube geschmissen worden. Erst als alles verstopft war, fand man die Leichen.

ÖSTERREICH: War denn Ihr Bruder niemandem abgegangen im Heim?
Kogler: Das weiß ich nicht, aber es wurde danach die gesamte Heimleitung ausgetauscht, und es gab auch einen Prozess. Die zwei Mörder bekamen 12 und 15 Jahre – aber ich war nur beim Begräbnis, nicht bei der Verhandlung. Ich war zu der Zeit nämlich bereits in Brunn am Gebirge in einem anderen Heim.

ÖSTERREICH: Wie ging es Ihnen danach?
Kogler: Ich konnte es gar nicht fassen, aber es kam ja noch schlimmer für mich, denn plötzlich stand meine Mutter da und nahm mich mit. Von dort an war ich ihre Sklavin, sie schrie mich mehr an als die Erzieherinnen am Wilhelminenberg – bis ich ausgerissen bin von der Wohnung im 10. Bezirk und zurück nach Brunn.

ÖSTERREICH: Wie lief Ihr Leben nach der Flucht?
Kogler: Nach dem Heim hab ich Fleischhacker gelernt – es war wohl ein Instinkt. Aber dort traf ich auf einen Mann, der mich auch ganz schlecht behandelte, mich schlug. So wie ich es eben kannte – aber weil ich nicht hässlich war, half mir ein anderer von ihm weg – dann begann ich zu kellnern. Es war aber auch mein Einstieg in die Bar-Szene …

ÖSTERREICH: Wie meinen Sie das?
Kogler: Erst war ich nur im Kaffeehaus, dann ging ich eines Abends nach hinten in die Bar. Dort war es kuschelig und dunkel, und mit der Zeit kamen Männer, fragten die Chefin, ob ich frei wäre. Dann ging es nach hinten in das Zimmer.

ÖSTERREICH: Warum haben Sie das gemacht?
Kogler: Ich wollte mich rächen an den Männern. Ich war schön und wollte ihr Geld, aber hatte auch die Macht. Einmal hab ich es sogar als Domina versucht. Das Gewand gefiel mir, aber ich hätte den Mann fast erschlagen, weil ich nicht mehr aufhören konnte. Zu dieser Zeit fing es mit dem Alkohol an.

ÖSTERREICH: Sie waren jahrelang Alkoholikerin?
Kogler: Mit Alkohol war ­alles leichter, ich war stärker. Sieben Flaschen Sekt, 25 Krügerl und noch Gin dazu – ich fing jeden Tag um 11 Uhr an und ging um 6 Uhr früh ins Bett. Über fast vier Jahre.

ÖSTERREICH: Sie hatten viele Schlägereien in dieser Zeit …
Kogler: Ja, mit dem Alkohol hab ich mich gewehrt, hab Männern die Aschenbecher über den Kopf gezogen, wenn sie mich nur anschauten. Einmal hab ich einem Polizisten das Jochbein mit meinem Stiefel zertrümmert. Vor Gericht tat es mir leid, aber ich war in Rage.

ÖSTERREICH: Wie kamen Sie davon los?
Kogler: Ich wollte einen normalen Job, hatte auch ­einen Mann kennengelernt, mit dem ich nun schon 22 Jahre zusammen bin. Ich war acht Wochen auf Entzug und bin seit 18 Jahren trocken. Aber als ich in der Zeitung von dem Heim gelesen habe, war ich wieder knapp dran, mich in einem Lokal niederzusaufen …

ÖSTERREICH: Sind Sie glücklich mit Ihrem Partner?
Kogler: Ja, aber wir haben seit 18 Jahren keinen Sex, ich kann mich auch nicht vor ihm ausziehen – es ist mehr Freundschaft.

ÖSTERREICH: Glauben Sie, Ihr Leben wäre anders verlaufen ohne die Jahre im Heim?
Kogler: Ich weiß es nicht, meine Mutter gab mich weg, als ich drei Monate alt war. Ich dachte, ich hätte das alles wohl verdient, hätte was falsch gemacht. Ich konnte auch nie mit jemandem drüber reden – aber das will ich, es geht jetzt irgendwie leichter …

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