Fall Kampusch

So gelang Natascha die Flucht

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Am 23. August gelang Natascha Kampusch die Flucht vor ihrem Entführer. Seit dieser Woche hat die Polizei alle Details dieser Flucht rekonstruiert. Es war ein Handy-Anruf eines Wohnungssuchenden, der den Entführer ablenkte.

Seit Samstag ist erstmals im Detail klar, wie Natascha Kampusch am 23. August die Flucht vor ihrem Entführer gelang. Anhand von Handy-Protokollen konnten die Ermittler rekonstruieren, dass an diesem Tag exakt um 12.56 Uhr der 26-jährige Wiener IT-Techniker Wolfgang Krenn die Handy-Nummer des Natascha-Entführers Wolfgang Priklopil anwählte.

Der Entführer Wolfgang Priklopil hatte in den letzten Jahren die unterschiedlichsten Jobs ausgeübt: Er war von Beruf Nachrichtentechniker, betrieb eine Veranstaltungshalle für Hochzeiten oder Feste und hatte zuletzt begonnen, Altbauten zu sanieren. Er war Teilhaber an einer Baugesellschaft, die Wohnungen renovierte und weiterverkaufte.

Genau dafür hatte er in den Tagen zuvor Inserate geschalten. Auf eines dieser Inserate meldete sich nun Wolfgang Krenn. Der IT-Techniker wollte einen Besichtigungstermin für eine von Priklopil renovierte Wohnung im 15. Wiener Bezirk vereinbaren. Was er nicht wusste - und erst eine Woche nach seinem Anruf von der Polizei erfuhr - war, dass er mit diesem Anruf Natascha Kampusch das Leben rettete.

Flucht beim Staubsaugen
Entführer Priklopil hatte an diesem Mittwoch beschlossen, seine Geisel Natascha wieder einmal für Hausarbeiten zu verwenden. Diesmal musste das Mädchen, das sonst immer in ihrem nur sechs Quadratmeter großen Kellerverlies verschwinden musste, seinen roten BMW 850i putzen.

Priklopil war Autofreak. Er besaß neben dem BMW auch noch einen blauen Mercedes 124 und mehrere Kleinbusse. Er liebte seine Autos, pflegte sie manisch. Für die Autos hatte er auf seinem Grundstück eine eigene zweite Garage errichten lassen. Zu dieser zweiten Garage war er an diesem Mittag gemeinsam mit Natascha gegangen, hatte sicherheitshalber sogar die hintere Garten-Einfahrt versperrt. Gerade als Natascha zehn Minuten vor 13 Uhr beginnen musste, den BMW zu saugen und Priklopil wie ihr „Gebieter“ kontrollierend daneben stand, läutete das Handy.

Da machte der Entführer den entscheidenden Fehler: Weil er sich vom Staubsaugerlärm belästigt fühlte und den Anrufer Wolfgang Krenn nicht gut verstehen konnte, ging er von der Rückseite der Garage, wo Natascha saugte, auf die Vorderseite. Das war offenbar der Moment, auf den die mittlerweile 18-jährige Natascha lange gewartet hatte. Während Priklopil dem Wohnungssuchenden fast fünf Minuten die Vorteile des Altbaus erklärte, entschied sie sich plötzlich zur Flucht.

Natascha ließ den Staubsauger geistesschnell einfach weiterlaufen, kletterte hinter dem BMW über den Zaun und entkam durch die Hecke. Dann lief sie über einen Feldweg zur Rückseite des Gartens der Nachbarin Ingeborg Kozisek. Die Pensionistin machte gerade in der Küche das Mittagessen, als sie merkte, dass Natascha ans Fenster trommelte. Ingeborg Kozisek: „Plötzlich war sie da, war völlig panisch und zitterte. Das erste, was mir auffiel war, dass sie ein völlig weisses Gesicht hatte. Dann fragte sie: Haben Sie alte Zeitungen aus dem Jahr 1998? Wissen Sie, ich bin Natascha Kampusch.“

Um 13.04 Uhr ging in der Notrufzentrale der Polizei der Anruf von Ingeborg Kozisek ein: „Bei mir ist eine junge Frau, die behauptet dass sie eine gewisse Natascha Kampusch ist. Sie sagt sie wird verfolgt und ist panisch. Bitte kommen sie schnell.“

Die Polizei war binnen fünf Minuten am Grundstück, brachte die junge Frau in den Polizeiposten Deutsch-Wagram. Wolfgang Priklopil bemerkte die Flucht laut Handy-Protokoll exakt um 13 Uhr - also vier Minuten, bevor der Notruf einging.

Doch er verfolgte Natascha nicht mehr. Als er die Polizeisirene bei der Nachbarin hörte, setzte er sich in den roten BMW, raste davon. Für den Entführer war eine Welt zusammengebrochen. Er hatte in den Tagen vor der Flucht fest angenommen, dass es ihm gelungen war, eine Liebesbeziehung zu Natascha aufzubauen.

Seit einem Jahr hatte er Natascha immer öfter erlaubt, von ihrem fensterlosen Verlies ins Freie zu gehen. Die Nachbarn sahen in diesen letzten zwölf Monaten immer wieder, wie eine junge, ausnehmend bleiche und dünne Frau gelegentlich die Gemüsebeete neben dem leeren Swimmingpool pflegte. Ein Nachbar will sogar beobachtet haben, wie Priklopil mit dieser jungen Frau immer wieder auf der Terrasse saß und - so der Nachbar wörtlich - „fast intim, jedenfalls vertraut wirkte. Ich dachte, das sei seine neue Freundin und war überrascht, weil ich ihn eigentlich für schwul hielt.“

Am 18. Geburtstag - das war der 17. Februar 2006 - machte Priklopil Natascha ein „Überraschungsgeschenk“: Sie durfte erstmals das Haus verlassen. Von da an war Priklopil mit Natascha wie mit einer Lebensgefährtin unterwegs. Die beiden gingen gemeinsam in Supermärkte einkaufen, besuchten angeblich sogar in Wien Museen und Sehenswürdigkeiten. Und immer wieder beobachteten Nachbarn, wie Natascha vor dem Haus in den BMW von Priklopil stieg.

Eineinhalb Monate vor ihrer Flucht nahm Priklopil Natascha sogar an seinen Arbeitsplatz, die Veranstaltungshalle in Wien-Liesing, also am anderen Ende der Stadt mit. Dort traf er mit ihr auf seinen Geschäftspartner, der heute sagt: „Er stellte mir die junge Frau als Bekannte vor, ich gab ihr die Hand, sie sagte sogar ‚Grüß Gott’ und hat auf mich einen fröhlichen, glücklichen Eindruck gemacht.“

Warum Natascha also ausgerechnet an diesem 23. August die Flucht ergriff, wird sie nächste Woche selbst erzählen. Auch wie ihr Verhältnis zu Wolfgang Priklopil wirklich war.

Marcus Carrer/ÖSTERREICH

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