Der Prozess gegen einen Schüler, der eine Siebenjährige getötet hat, muss wiederholt werden.
Der Prozess gegen einen mittlerweile 17 Jahre alten Burschen, der am 11. Mai 2018 im Ditteshof in Wien-Döbling eine Siebenjährige getötet hat, muss wiederholt werden. Das hat der Oberste Gerichtshof (OGH ) entschieden. Grund dafür war ein Verfahrensfehler des Erstgerichts. Zur Klärung der Zurechnungsfähigkeit des Schülers hätte ein "Obergutachten" eines dritten Psychiaters eingeholt werden müssen.
Der Jugendliche war am 19. Dezember vom Wiener Landesgericht für Strafsachen wegen Mordes zu 13 Jahren Haft verurteilt und dabei als zurechnungsfähig eingestuft worden. Er wurde aufgrund einer psychiatrisch erstellten Gefährlichkeitsprognose gemäß § 21 Absatz 2 StGB dennoch zusätzlich zur Strafe in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen. Wie der OGH am Mittwochnachmittag in einer Aussendung berichtete, wurde diese Entscheidung nun aufgehoben.
"Innere Stimmen" hätten ihm Anweisungen gegeben
Der damals 16-Jährige hatte das Mädchen aus der Nachbarschaft in der elterlichen Wohnung zuerst gewürgt, in eine Duschkabine gedrängt und ihr mit einem Messer unter anderem einen Halsschnitt zugefügt. Die Kleine verblutete. Vor den Geschworenen hatte sich der 16-Jährige damit verantwortet, er hätte die Anweisungen innerer Stimmen befolgt. Verteidigerin Liane Hirschbrich hatte keine Zweifel, dass ihr junger Mandant psychisch derart krank ist, dass bei ihm keine Zurechnungsfähigkeit und damit keine Schuldfähigkeit gegeben war. Straftäter, die in einem die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustand handeln, können der österreichischen Rechtsordnung zufolge nicht bestraft werden. Sie sind gemäß § 21 Absatz 1 StGB allenfalls in einer Anstalt für abnorme Rechtsbrecher unterzubringen.
Die Frage der Zurechnungsfähigkeit stand auch im Mittelpunkt des gerichtlichen Hauptverhandlung, zumal der 17-Jährige die Tat grundsätzlich nicht bestritten hatte. "Eine Stimme im Kopf hat gesagt, dass ich sie würgen soll. Das tat ich auch. Ich habe weitere Anweisungen gehört. Dass ich sie in die Duschkabine bringen soll, ein Messer holen und zustechen soll", gab der Angeklagte zu Protokoll. Weitere Details wollte er nicht preisgeben: "Ich kann es nicht noch näher schildern." Während der von der Staatsanwaltschaft beigezogene Gerichtspsychiater Peter Hofmann dem Angeklagten Zurechnungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt bescheinigte, zeigte sich der Linzer Kinder- und Neuropsychiater Werner Gerstl überzeugt, dass das nicht der Fall war. Eine innere Stimme hätte den 16-Jährigen "blitzartig überfallen" und ihm "Pack zu!" gesagt. Da habe der Bursch "in einem übermäßigen Aggressionsstau diesen ganz schlimmen Mord begangen" argumentierte Gerstl.
Bericht wies drittes Gutachten zurück
Angesichts dieser zwei einander widersprechenden Gutachten beantragte die Staatsanwaltschaft die Beiziehung eines weiteren psychiatrischen Sachverständigen, blitzte damit aber beim Gericht ab. Von einem "Obergutachten" sei keine "Verbreiterung der Entscheidungsgrundlagen" zu erwarten, begründete der vorsitzende Richter Daniel Rechenmacher die Abweisung dieses Antrags. Damit oblag die Entscheidung, welchem Sachverständigen zu folgen war, den Geschworenen und damit juristischen Laien. Sie schlossen sich Hofmanns Expertise an, der ihnen erklärt hatte, der Bursche habe eine narzisstisch-schizoide Persönlichkeitsstörung aufgewiesen, die sich aber erst "im Vorstadium" befunden hätte. Die Diskretions- und Dispositionsfähigkeit des Schülers wären nicht aufgehoben gewesen.
Verzicht auf drittes Gutachten fundamentaler Verfahrensfehler
Für den OGH war der Verzicht auf ein drittes Gutachten ein fundamentaler Verfahrensfehler, der zur Klärung, ob der Bursch zurechnungsfähig ist oder nicht, eine Neudurchführung des Verfahrens am Landesgericht für Strafsachen nötig macht. "Falls ein Schuldausschließungsgrund vorliegt, kann keine Freiheitsstrafe verhängt werden. Zulässig ist aber, gleich ob Zurechnungsunfähigkeit vorliegt oder nicht, bei Gefährlichkeit des Angeklagten die Anordnung der Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher", erläuterte der OGH in einer Pressemitteilung. Dass das Opfer vorsätzlich getötet wurde, "steht bereits aufgrund des bisherigen Verfahrens fest und bildet den Ausgangspunkt der neuen Hauptverhandlung", hielt der OGH fest.
Termin für den zweiten Prozess gibt es noch keinen. Die Verhandlung wird Richter Norbert Gerstberger leiten.
Grausame Details
Zum Tatzeitpunkt war der Bursch mit seinem Opfer allein in der Wohnung seiner Eltern. Dabei bildete sich bei ihm gemäß der Anklage "der Wille, seine Mordfantasien in die Tat umzusetzen". Daraufhin habe er sein Opfer zuerst derartig gewürgt, dass dieses "vor Schock erstarrt" stehen blieb. Er brachte sie in die Dusche ins Badezimmer, da er damit rechnete, "dass die Siebenjährige stark bluten werde". Dann stach der Verdächtige laut Anklage zu und soll auch noch versucht haben, dem leblosen Kind den Kopf abzutrennen.
Unmittelbar nach der aufsehenerregenden Bluttat hatten Angehörige und Personen aus dem Umfeld der betroffenen tschetschenischen Familie Blutrache geschworen. Der Tatverdächtige wurde aus Sicherheitsgründen in ein Gefängnis bzw. in eine psychiatrische Einrichtung in einem anderen Bundesland verlegt. Aktuell sollen sich ein Bruder und ein Onkel der Getöteten in der Justizanstalt Josefstadt in Haft befinden. Einer der beiden wurde erst vor Kurzem wegen Raubes und anderer Delikte erstinstanzlich verurteilt. Das Wiener Landesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (LVT) geht davon aus, dass er zu den gefährlichsten Mitgliedern der tschetschenischen Community in Wien zählt.
Der Vater der getöteten Siebenjährigen saß wiederum zuletzt in Südtirol wegen Schlepperei im Gefängnis. Im Juni kehrte er von einem genehmigten Freigang nicht in die Justizanstalt zurück.