Grenzöffnungen

Experten rechnen mit neuem Flüchtlingsansturm

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Wiener Institut ICMPD rechnet ab Herbst mit Zahlen wie im Vorjahr. 

Mit dem Wegfall der im Zuge der Corona-Schutzmaßnahmen eingeführten innereuropäischen Grenzkontrollen wird nach Ansicht des Wiener Zentrums für Migrationspolitik (ICMPD) auch die Zahl der Grenzübertritte in die EU wieder "relativ stark" ansteigen.
 
Die Krise habe gezeigt, wie wichtig legale Wege der Arbeitsmigration und Investitionen in Ausbildung seien, so ICMPD-Experte Martin Hofmann im APA-Gespräch.
 
"Werden alle Mobilitätsrestriktionen aufgehoben, sind wir im Herbst wieder bei ähnlichen Monatszahlen wie im Vorjahr", antwortete Hofmann auf die Frage, mit welcher zeitlichen Verzögerung nach den Grenzöffnungen zu rechnen ist. Die Ganzjahreszahlen 2020 werden laut dem "International Centre for Migration Policy Development" aber unter denen des Vorjahres liegen. Einerseits, weil in den Monaten der Grenzschließungen nur wenige Übertritte registriert wurden, andererseits weil davon auszugehen ist, dass Reisefreiheit für Staatsangehörige aus Drittstaaten noch länger nicht gegeben ist. 2019 hatten die Asylantragszahlen von Venezolanern und Kolumbianern in der EU massiv zugenommen - sie konnten in Vor-Corona-Zeiten visafrei nach Spanien einreisen, viele stellen danach einen Antrag auf Asyl.
 

Neuer Ansturm aus Lateinamerika?

Auch wenn die Antragszahlen aus Lateinamerika in diesem Jahr recht niedrig sein dürften, sei generell durch die Corona-Pandemie das Potenzial für Fluchtbewegungen sehr gewachsen, betonte Hofmann. Viele Menschen seien direkt von den negativen wirtschaftlichen Folgen betroffen, dadurch dürfte - wie in den vergangenen Jahren - die Zahl der Binnenvertriebenen (IDPs) steigen. Aber auch die "gut gebildete Mittelschicht" könnte sich auf der Suche nach Perspektiven auf den Weg nach Europa machen.
 
Neben dem Aspekt der Reisefreiheit mit Drittstaaten ist für Hofmann die Zusammenarbeit mit anderen Staaten ein wichtiger Aspekt bei der Prognose von Migrationsbewegungen. Wichtig seien weiterhin die Beziehungen der EU mit der Türkei, wobei Brüssel hier wohl einen "höheren Beitrag" leisten werde müssen, sagte Hofmann in Anspielung auf die Forderungen Ankaras im EU-Türkei-Abkommen. Auch Marokko und Libyen würden eine zentrale Rolle spielen, wobei in letzterem die Situation derzeit noch unübersichtlicher sei als sonst.
 
Bereits im Mai habe man beobachten können, dass wieder mehr Flüchtlingsboote von der libyschen Küste ablegten und auch die Schlepperaktivitäten auf der sogenannten Balkanroute wieder zunähmen, schilderte Hofmann. Vor allem dort rechnet das in Wien ansässige ICMPD, das vom früheren Vizekanzler Michael Spindelegger (ÖVP) geleitet wird, mit einem hohen Anstieg der Zahlen im Zuge der Aufhebung der Grenzkontrollen.
 

"Teure, gefährliche Wege"

Unter welchen Bedingungen die künftigen Migrationsbewegungen stattfinden, werde auch davon abhängen, wie restriktiv die EU-Staaten ihre Arbeitsmärkte gestalten werden, erklärte der Experte. Es könnte insbesondere auf der Balkanroute "weg von billigen Massenbewegungen, hin zu teureren, gefährlicheren Wegen" gehen.
 
Das ICMPD hatte bereits in der Vergangenheit mehr legale Migrationswege gefordert. Vor allem im Bereich der Ausbildung müsse viel stärker mit Herkunftsländern kooperiert werden, appellierte Hofmann. Jedenfalls müsse dies Teil einer Gesamtstrategie in Sachen Migration sein.
 
Die Coronakrise habe in gewisser Weise auch neue Chancen geboten, insofern, als Migration auch als etwas positives - Stichwort Pflege-und Erntehelfer und -helferinnen - erlebt werden kann, erinnerte Hofmann. Auch wenn die Pandemie und ihre Auswirkungen die Politik national wie international weiterhin beherrscht, so dürfte das Thema Migration nicht vergessen werden. Denn: "An der 'Marktsituation' hat sich eigentlich nichts geändert."
 
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