Gespräche über Ukraine-Krieg und Besuch von Wasserflughafen geplant.
Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) reist am Freitag nach Estland. Bei der eintägigen Visite ist ein Treffen mit Ministerpräsidentin Kaja Kallas geplant. Inhaltlich wird es um die bilateralen Beziehungen gehen, die schon mehr als 100 Jahre bestehen, teilte das Bundeskanzleramt im Vorfeld mit. Am 11. Juni 1921 hat Österreich die Republik Estland de jure offiziell anerkannt. Außerdem werden Nehammer und Kallas über den russischen Angriffskrieg in der Ukraine sprechen.
Dem Bundeskanzler gehe es vor allem um die Erörterung von Möglichkeiten zur Deeskalation im Ukraine-Krieg und die Schaffung grüner Korridore für Lebensmitteltransporte, hieß es. Auch der kommende EU-Gipfel wird Thema sein. Die Ukraine hofft, beim EU-Gipfel am 23. und 24. Juni in Brüssel einen Kandidatenstatus zu erhalten. Während Estland sich für einen raschen EU-Beitritt der Ukraine einsetzt, spricht sich Österreich für eine schrittweise Annäherung aus. Nehammer hatte am Wochenende einen "europäischen Vorbereitungsraum" als Zwischenschritt zwischen einer Zusammenarbeit und einem EU-Vollbeitritt für Staaten wie die Ukraine oder die Republik Moldau vorgeschlagen.
Unterschiedlicher Meinung sind Tallinn und Wien auch in Bezug auf die Reaktion auf den Ukraine-Krieg. Nehammer etwa erachtet ein Embargo von russischem Gas auch beim nächsten Sanktionspaket der EU als "kein Thema". Kallas dagegen drängt darauf. "Es gibt keinen Frieden, wir haben nicht genug gemacht", hatte die estnische Ministerpräsidentin beim vergangenen EU-Gipfel beklagt. Estland hat wie Lettland und Litauen zum 1. April seine Erdgas-Importe eingestellt. Der Anteil am Energieverbrauch lag bei nur sieben Prozent.
Im Anschluss an das Gespräch mit Kallas steht der Besuch des Tallinner Wasserflughafens samt Meeresmuseum auf dem Programm des Kanzlers.
Estland ist in Bezug auf Russland sensibel. Nach der Loslösung vom alten Russland 1918 folgten Jahre der blutigen Kämpfe zwischen Gegnern und Befürwortern des Kommunismus, die vor allem von Deutschland auf der einen und von der Sowjetunion auf der anderen Seite unterstützt wurden. Das Obsiegen der anti-kommunistischen Kräfte im Baltikum hat bis zum heutigen Tag Auswirkungen auf das Verhältnis zu Russland und auch im Verhältnis zu den jeweiligen russischsprachigen Minderheiten im eigenen Land, die rund ein Viertel der Bevölkerung ausmacht. Im Zweiten Weltkrieg wurde Estland abwechselnd von der Sowjetunion und Hitler-Deutschland besetzt. Nach Kriegsende war der Baltenstaat bis 1991 unfreiwillig Teil der Sowjetunion. Seit 2004 gehört Estland der EU und der NATO an.
Kallas ist außerdem innenpolitisch gerade gefordert. Das Regierungsbündnis aus ihrer wirtschaftsliberalen Reformpartei und der linksgerichteten Zentrumspartei ist zerbrochen. Dem vorausgegangen waren Streit, Machtkämpfe und eine wochenlange politische Blockade. Kallas hatte deshalb die seit Jänner 2021 bestehende Zweierkoalition aufgekündigt und die sieben Minister der Zentrumspartei entlassen. Seitdem regiert sie ohne parlamentarische Mehrheit. Sie verhandelt nun mit Vertretern der Sozialdemokraten und der konservativen Partei Isamaa über eine neue Koalition.