Corbyn kündigt Rücktritt an

Johnson will nach Wahl-Sieg: "Schlussstrich" unter Brexit-Streit

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Labour mit schlechtestem Ergebnis seit 1935 - Corbyn kündigt Rücktritt an - Kurz beeindruckt - Rendi-Wagner und Hofer: Votum für EU-Autritt

London. Nach dem klaren Wahlsieg der Konservativen in Großbritannien will die Regierung den Brexit-Streit hinter sich lassen. Der im Amt bestätigte Premier Boris Johnson forderte am Freitag einen "Schlussstrich" und rief zu einer Überwindung der gesellschaftlichen Spaltung über den EU-Austritt auf. Labour-Chef Jeremy Corbyn kündigte nach der verheerenden Niederlage seiner Partei seinen Rücktritt an.
 
"Wir werden den Brexit bis zum 31. Jänner vollenden, kein Wenn, kein Aber und kein Vielleicht", versprach Johnson am Freitag vor jubelnden Anhängern in London. Ein zweites Referendum über den EU-Austritt sei vom Tisch.
 
In einer Ansprache vor dem Regierungssitz Downing Street in London sprach sich der 55 Jahre alte Premier für eine "dauerhafte Pause vom Reden über den Brexit" aus. Das habe das Land nach dem fünfwöchigen Wahlkampf verdient. Möglicherweise wird Johnson schon am Montag sein Kabinett umbilden. Am Dienstag soll das neu gewählte Parlament dann zu seiner konstituierenden Sitzung zusammentreten.
 
Vor der Absperrung an der Downing Street bildete sich am Freitag eine Menschentraube. Sie sei sehr erfreut über das Ergebnis, sagte die 55 Jahre alte Joan. "Das war ja peinlich, die Streitereien im Unterhaus. Die ganze Welt hat schon über uns gelacht. Ich war für den Brexit, und ich mag Boris Johnson." Die 44-jährige Heather hat nicht für Johnson gestimmt. "Aber ich bin jetzt auch froh, wenn dieser Alptraum mit dem Brexit-Gezerre vorbei ist", sagte sie. "Geben wir Boris eine Chance, wir werden ja sehen, ob er schafft, was er versprochen hat."
 
Johnsons Konservative sicherten sich laut dem offiziellen Endergebnis bei der Wahl am Donnerstag 365 Sitze im Parlament und damit klar die absolute Mehrheit, die bei 326 Stimmen liegt. Damit sind sie so stark wie seit der Thatcher-Ära in den 1980er Jahren nicht mehr. Johnson erhielt von Königin Elizabeth II. den Auftrag zur Regierungsbildung und beteuerte, den Brexit bis Ende Jänner "fristgerecht zu erledigen".
 
Die Labour-Partei fuhr ihr schlechtestes Ergebnis seit 1935 ein und kommt auf nur noch 203 Sitze. Parteichef Corbyn, dessen schlechte Beliebtheitswerte zur Wahlniederlage beigetragen haben dürften, reagierte "sehr enttäuscht". Bei künftigen Wahlen werde er nicht mehr als Spitzenkandidat antreten, sagte er.
 
Die künftige starke Mehrheit der Tories ermöglicht es Johnson, sein mit der EU ausgehandeltes Ausstiegsabkommen zügig vom Unterhaus verabschieden zu lassen. Er kann damit Großbritannien zum Ablauf der geltenden Frist am 31. Jänner aus der EU führen.
 
Anschließend bleiben ihm nur elf Monate Zeit, um bis zum Ablauf einer Übergangsfrist die künftigen Beziehungen mit der EU auszuhandeln. In dieser Zeit ist Großbritannien zwar kein EU-Mitglied mehr, bleibt aber im Binnenmarkt und in der Zollunion.
 
Experten zufolge könnte Johnson die Frist dank seiner komfortablen Mehrheit im Unterhaus noch verlängern und ein engeres Handelsabkommen mit Brüssel schnüren als bisher geplant. EU-Staaten begrüßten das eindeutige Wahlergebnis - und warnten zugleich vor einer neuen Konkurrenz durch Großbritannien nach dessen EU-Austritt. EU-Ratspräsident Charles Michel erklärte, Brüssel sei "bereit für eine neue Phase". Die EU habe ihre Prioritäten für die Gespräche über die künftigen Beziehungen bereits festgelegt. Es werde keine Vereinbarung mit Großbritannien "zu jedem Preis geben", betonte Michel.
 

Internationale Stimmen zu Johnson-Sieg 

 
ÖVP-Chef Sebastian Kurz gratulierte Johnson via Twitter zu einem "beeindruckenden Wahlsieg" und gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass das EU-Austrittsabkommen jetzt rasch ratifiziert werden könne. Dann könnten sich Großbritannien und die EU auf ihre künftige Beziehung konzentrieren, die so eng wie möglich sein solle. SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner und FPÖ-Obmann Norbert Hofer sprachen von einem neuerlichen "Votum für den Brexit". Nach dem "eindeutigen" Ergebnis bleibe zu hoffen, dass es zu einem geordneten Austritt kommt, sagte Rendi-Wagner.
 
 
 
Hofer meinte, das Ergebnis sei "ein weiteres Beispiel dafür, dass die in den Medien veröffentlichte Meinung nicht unbedingt mit der öffentlichen Meinung übereinstimmt." Die Wähler hätten" erneut ein deutliches Zeichen für einen Ausstieg Großbritanniens aus der Europäischen Union gesetzt".
 
US-Präsident Donald Trump warb unmittelbar nach dem Wahlsieg Johnsons für ein Freihandelsabkommen mit Großbritannien. Die USA und Großbritannien könnten nach dem Brexit einen "gewaltigen neuen Handelsvertrag" schließen, der "lukrativer" sei als jener mit der EU, twitterte Trump.
 
Deutschland Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte, beim EU-Gipfel in Brüssel habe es "professionelle Anerkennung" dafür gegeben, dass es Johnson gelungen sei, die Bürger zu überzeugen. "Chapeau, muss man einfach sagen, dass ihm das gelungen ist." Zugleich betonte Merkel, dass durch den Brexit ein neuer Wettbewerber in der europäischen Nachbarschaft entstehe.
 
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron äußerte die Hoffnung, dass das Vereinigte Königreich ein "Freund und ein extrem enger Partner" bleibe. "Wir wollen nicht, dass Großbritannien ein unfairer Wettbewerber wird", sagte Macron.
 
Der neue EU-Kommissar für Industrie und Binnenmarkt, Thierry Breton, sagte, beide Seiten müssten nun "ausgewogene" Beziehungen aufbauen. Großbritannien sei ein sehr wichtiger Handelspartner für die EU, "aber wir sind bei weitem der größte Handelspartner für Großbritannien", betonte der Franzose.
 
Das britische Mehrheitswahlrecht benachteiligte bei der dritten Parlamentswahl innerhalb von gut viereinhalb Jahren wie gewöhnlich die kleineren Parteien. So vergrößerten die pro-europäischen Liberaldemokraten zwar ihren prozentualen Stimmenanteil deutlich auf 11,5 Prozent, verloren aber einen Sitz und kommen künftig nur noch auf elf Mandate. Parteichefin Jo Swinson verpasste den Wiedereinzug ins Unterhaus. Die Liberaldemokraten kündigten deshalb an, im neuen Jahr eine neue Parteispitze zu wählen.
 
Die Schottische Nationalpartei, die im Wahlkampf für ein zweites Brexit-Referendum sowie ein zweites Unabhängigkeitsreferendum eingetreten war, legte deutlich zu und kam auf 48 Sitze. Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon bekräftigte deshalb, ein neues Unabhängigkeitsreferendum in Schottland abhalten zu wollen. Die Brexit-Partei von Nigel Farage ging bei der Parlamentswahl leer aus.
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