Nach dramatischen Bildern von Warteschlangen an Tankstellen hat die britische Regierung ihre starre Haltung über den Haufen geworfen und hofft nun auf Rettung durch ausländische Fachkräfte.
Wie das Verkehrsministerium am Sonntag in London mitteilte, werden bis zu 5000 Arbeitsvisa für Lastwagenfahrer bereitgestellt, zudem sollen 5500 Fachkräfte für die Geflügelverarbeitung angelockt werden. Das Ziel: Premierminister Boris Johnson will doch noch das Weihnachtsfest retten.
"Nach sehr schwierigen 18 Monaten weiß ich, wie wichtig dieses Weihnachtsfest für uns alle ist", sagte Verkehrsminister Grant Shapps. Noch am Freitag hatte er abgelehnt, ausländische Spezialisten ins Land zu holen.
Die Lage ist dramatisch. Weil an allen Ecken Lastwagenfahrer fehlen - der Branchenverband Road Haulage Association (RHA) nennt als Zahl bis zu 100 000 - blieben in Supermärkten Lebensmittelregale leer, auch viele andere Waren gab es vorübergehend nicht, von Matratzen bis zu bestimmten Biersorten. Aber erst, als bekannt wurde, dass Energiekonzerne Dutzende Tankstellen nicht mehr beliefern konnten, griff die Regierung ein. Ein Grund für den eklatanten Engpass sind die schärferen Einwanderungsregeln seit dem Brexit, EU-Bürger benötigen nun teure Arbeitsvisa.
Vertreter der Logistikbranche sowie der Nahrungsmittelindustrie begrüßten die Regierungspläne. Zugleich machten sie deutlich, dass die insgesamt 10 500 Fachkräfte nicht ausreichten. "Das ist, als ob man ein Lagerfeuer mit einem Fingerhut Wasser löschen will", sagte die Präsidentin der Britischen Handelskammer, Ruby McGregor-Smith. Der Industrieverband CBI kritisierte die Haltung der Regierung, vor allem auf Ausbildung zu setzen. "Man kann Gepäckabfertiger nicht über Nacht in Fleischer verwandeln oder Ladenbesitzer in Köche", sagte CBI-Chef Tony Danker der BBC.
Hingegen beharrte das Verkehrsministerium darauf, dass der Import von Arbeitskräften keine nachhaltige Lösung des Problems darstelle. Minister Shapps weigerte sich, den Brexit als Grund für die Nöte anzuerkennen, und warf vielmehr dem RHA vor, mit durchgestochenen Informationen aus nicht-öffentlichen Sitzungen Panik geschürt zu haben. Der Verband wies dies entrüstet zurück.
Helfen sollen nun ein Maßnahmenpaket und das Militär. Vorgesehen ist etwa, dass Fahrlehrer der Armee helfen, den enormen Rückstau an Fahrprüfungen aufzuarbeiten, der auch durch die Corona-Pandemie entstanden ist. Shapps schloss nicht aus, dass Soldaten sogar als Fahrer einspringen könnten. Zudem sollen ehemalige Brummi-Fahrer von einer Rückkehr in den Beruf überzeugt werden, die Regierung verspricht höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Insgesamt sollen 50 000 Fahrprüfungen pro Jahr zusätzlich möglich werden.
Zugleich versuchte die Regierung, die Bevölkerung zu beruhigen. Es sei genügend Kraftstoff vorhanden, sagte Minister Shapps. Die Leute sollten sich vernünftig verhalten. Seine Kabinettskollegin Nadine Dorries twitterte: "Es gibt keinen Kraftstoffmangel. Ich wiederhole: ES GIBT KEINEN KRAFTSTOFFMANGEL!!"
Ein Versprechen des Brexits war, die Freizügigkeit zu beenden. Nun sollen die Ausländer doch helfen. Der RHA zweifelt aber daran, ob die erhofften Fachkräfte überhaupt kommen. Die Zeit sei knapp, und es sei fraglich, ob Fahrer, die auch in der EU händeringend benötigt werden, sich auf ein zeitlich begrenztes Abenteuer einließen, sagte RHA-Manager Rod McKenzie der Nachrichtenagentur PA.
Andere Branchen gehen ebenfalls davon aus, dass das Weihnachtsgeschäft auf der Kippe steht. Das liegt auch an einer Energiekrise mit stark gestiegenen Gaspreisen, die sich etwa auf die Lebensmittelproduktion auswirken. Zudem warnten Weihnachtsbaumproduzenten gegenüber dem Sender Sky News vor einem drastischen Preisanstieg. Es sei fraglich, ob jeder, der wolle, einen echten Christbaum aufstellen könne.
Noch gefährdeter ist der traditionelle Festschmaus. Bereits vor Weihnachten werde es keine Truthähne mehr geben, sagte die Chefin des Verbands Traditional Farm Fresh Turkey Association, Kate Martin. Im Gegensatz zu Minister Shapps ist sie überzeugt, dass der Brexit Schuld an den Lieferproblemen ist. Zwar nutzten kleinere Produzenten lokale Arbeitskräfte. Bei den großen Anbietern sei aber "zu 100 Prozent" der Brexit die Ursache für die Knappheit an Arbeitskräften.