ÖSTERREICH-Reporter Florian Lems schildert seine Eindrücke aus Pakistan.
Die Situation in Pakistan spitzt sich immer mehr zu. Die Armee evakuiert in der Provinz Sindh Hunderttausende Menschen aus ihren Dörfern, in einem Wettlauf gegen die Zeit wird mit dem Ausbau bereits bestehender Dämme versucht, die Wassermassen von der Metropole Hyderabad fernzuhalten. Verlieren die Behörden den Kampf gegen die Flut, steht eine Stadt mit neun Millionen Einwohnern unter Wasser.
In den überschwemmten Gebieten, vor allem im Punjab und Sindh, breiten sich inzwischen viele Krankheiten aus. Pakistanische Medien berichten täglich von Dutzenden Menschen, die an Durchfallerkrankungen sterben. Vor allem Kinder sind betroffen, und alte Menschen. Sie sind meist völlig dehydriert und erreichen die ohnehin überlasteten Spitäler in vielen Fällen zu spät. Vor allem die Hitze macht den Menschen auf der Flucht zu schaffen, „der Ramadan kommt erschwerend dazu“, sagt Tomaso Fabbri von „Ärzte ohne Grenzen“, der die Hilfe in der Provinz Khyber und den nördlichen Distrikten des Punjab koordiniert. Im islamischen Fastenmonat, den in Pakistan jeder einhält, wird tagsüber nicht nur auf das Essen, sondern auch aufs Trinken verzichtet. Für die vielen Menschen mit Durchfallerkrankungen ein zusätzliches Risiko.
„Die Situation ist wirklich sehr kritisch, die größte Gefahr ist ein Cholera-Ausbruch“, sagt Fabbri im Gespräch mit ÖSTERREICH. In lokalen Zeitungen wird bereits von einzelnen Cholera-Fällen berichtet, die der Italiener jedoch nicht bestätigen kann.
Vorsorglich haben Hilfsorganisationen Hunderttausende „Cholera-Kits“ für den Ernstfall gelagert. „Wenn es einen bestätigten Fall gibt, muss man von 10.000 weiteren Erkrankungen ausgehen“, sagt der Operationsleiter einer pakistanischen NGO, der nicht genannt werden will.
In den überschwemmten Gebieten ist indes keine Erleichterung in Sicht: Im flachen Süden steht das Wasser und rinnt nicht ab, der Boden kann das Wasser nicht mehr aufnehmen. Und am Montag haben Meteorologen eine Hiobsbotschaft überbracht. Am Dienstagabend beginnt es wieder zu regnen, drei Tage lang, so die Prognose. Beobachter halten eine weitere Flutwelle für möglich, hoffen, dass es im gebirgigen Norden wenigstens zu keiner neuen Springflut kommt. Denn die hatte Ende Juli die meisten Todesopfer gefordert.
BLOG-Autor: Florian Lems, Islamabad, 24.8.2010
„Please donate fort he flood victims.“ Ein junger Mann beugt sich durch das offene Fenster, hält seine Sammelbüchse ins Auto. Die Box aus Plexiglas ist schon fast voll: einige Münzen, vor allem aber Rupie-Scheine. Die Autofahrer die hier, an der Mautstelle auf der Kashmir-Highway, anhalten müssen, sind seiner Aufforderung großzügig nachgekommen.
„Spenden Sie für die Flutopfer“, wird auch im Fernsehen appelliert. Und die Pakistaner spenden – per SMS, Überweisung, in bar. Die Flutkatastrophe hat die Massen zunächst paralysiert, jetzt hat überbordende Solidarität die Lähmung ersetzt. Medien berichten im Stundentakt über das Fortschreiten der Wassermassen in der Provinz Sindh, jeder ist sich bewusst, dass Pakistan gerade mit einem nationalen Desaster ungeahnten Ausmaßes konfrontiert ist.
Während der Hilfsapparat der internationalen Organisationen in Gang kommt und immer mehr Betroffenen erreicht, wird Kritik an der Regierung laut. Etwa in den Gesprächen mit Betroffenen: Die Nahrung bekomme er von Nachbarn, berichtet Mehmood Han, der sein Zelt neben der Straße nach Peschawar aufgeschlagen hat. Das Wasser bringen internationale NGO’s. „Doch die Regierung, die gibt uns nichts“, schimpft der Mann, der alles verloren hat.
Anderer Ort, ähnliche Situation: In Nowshera schaufeln einige Männer Schlamm aus den Überresten ihrer Häuser. „Niemand hilft uns, nur unsere Nachbarn und Bekannte spenden Essen und helfen beim Aufräumen“, sagt Aamir Mehmood. Vielerorts hat sich die Wut auf die Behörden bereits in Protesten entladen. Die Autobahn nach Peschawar wurde stundenlang blockiert, im nahegelegenen Attock wollten Hunderte Demonstranten das Büro der Elektrizitätsgesellschaft anzünden, weil es seit Tagen keinen Strom gibt. Viele Flutopfer sind der Meinung, von der eigenen Regierung im Stich gelassen zu werden. Und viele glauben, dass sie das Geld, das jetzt ins Land kommt, in die eigenen Taschen steckt.
Die Kritik an der Regierung ist jedoch auch mit Vorsicht zu genießen. Sie hat im instabilen Pakistan Tradition, und ja, in vielen Fällen ist sie auch angebracht. Vor einigen Tagen kritisierte die Zeitung „The News“ etwa den Lebensstil des Premierministers – der sich daraufhin zum Versprechen gezwungen sah, seine maßgeschneiderten Anzüge zu versteigern und den Erlös den Flutopfern zu spenden.
Klar ist aber auch, dass die Behörden nicht mutwillig den Kopf in den Sand stecken. Politiker wissen, dass ihre Glaubwürdigkeit stündlich abnimmt, sie wissen aber nicht, wo sie überhaupt mit den Sofortmaßnahmen anfangen sollen. Sie sind ratlos, die Jahrhundertflut hat sie komplett überfordert. Wohl keine Regierung der Welt wird alleine mit einer Katastrophe dieses Ausmaßes fertig. 20 Millionen Betroffene, von denen laut UNO inzwischen acht Millionen auf sofortige humanitäre Hilfe angewiesen sind; die Evakuierung hunderttausender Menschen aus den Dörfern und Städten im Süden. Und gleichzeitig die Betreuung der Flutopfer in den Gebieten, aus denen sich das Wasser bereits zurückgezogen hat. Das stellt die Verwaltung eines Landes mit 177 Millionen Einwohnern, von denen gut ein Viertel der Menschen unter der Armutsgrenze lebt, vor eine unmögliche Aufgabe. Schlechtes Image oder nicht – alleine wird Pakistan mit dieser Situation nicht fertig.
BLOG-Autor: Florian Lems, Islamabad, 22.8.2010
Krise in der Krise
„Tsunami im Zeitlupentempo“ – so bezeichnete
UNO-Generalsekretär Ban Ki-Moon das, was jetzt gerade in Pakistan passiert.
Eine gigantische Flutwelle rollt immer noch über das Land, langsam, aber
unaufhaltsam. Sie setzt ganze Landstriche im flachen, bevölkerungsreichen
Süden des Landes unter Wasser. Bald fließt das Wasser ab, ins Meer, doch
Erleichterung ist keine in Sicht. Nach weiteren Regenfällen in Punjab folgte
eine zweite Welle, mit einem Abstand von vier bis fünf Tagen. Sie schwemmt
in der Provinz Sindh vielerorts weg, was den Wassermassen bisher
standgehalten hat.
„Tsunami im Zeitlupentempo“ – im gebirgigen Norden des Landes, in den Grenzregionen zu Afghanistan, trifft diese Bezeichnung keineswegs zu. Im Gegenteil, hier geschah alles sehr rasch: Eine riesige Springflut, eine Wasserwand von stellenweise 15 Metern Höhe schoss durch die engen Tälern hinab, riss alles mit sich. Schwere Betonbrücken wurden einfach weggeschwemmt, es wird Jahre dauern, die Infrastruktur wieder herzustellen.
Die Menschen in dieser Region, vor allem im Swat-Tal, sind doppelt betroffen. Im Helfer-Jargon spricht man hier von einer „Crisis in the crisis“ – einer Krise in der Krise also.
Denn erst vor gut einem Jahr, im Mai 2009, wurden Hunderttausende Bewohner der Nordwestprovinz zu Kriegsflüchtlingen, als das pakistanische Militär in einer großen Offensive die Taliban bekämpfte. Und (zumindest vorläufig) siegte – jedoch zu einem hohen Preis. Bei den Kämpfen wurden unzählige Häuser zerstört, die Felder lagen brach, die Ernte fiel aus. Dennoch: Wiederaufbauhelfer waren im Juli vorsichtig optimistisch. Zwar gab es nach wie vor ein Nachtreise-Verbot im Swat-Tal, es bestand weiter die Gefahr von Übergriffen durch Taliban-Kämpfer. Doch der Aufbau ging gut voran, Flüchtlinge kehrten zurück, Wiederaufbau-Organisationen gingen bereits von Phase 1 (Häuser bauen) zu Phase 2 über, den Wiederaufbau der Landwirtschaft. „Wir warteten alle auf den Monsun, damit das Saatgut endlich gedeihen kann“, berichtet Shoaib Haider, lokaler Projektleiter der österreichischen Initiative „Hope 87“.
Dann kam der Monsun, und er riss alles mit sich fort. Die Häuser – Ruinen. Die Felder – Schlammwüsten. „Alles was wir aufgebaut haben ist jetzt wieder weg“, sagt ein Entwicklungshelfer. Zum zweiten Mal binnen eineinhalb Jahren sind die Bewohner zu Flüchtlingen im eigenen Land geworden, leben in Zelten, trauern um die zahlreichen Toten, die es gerade in dieser Region gab. Die Aussichten sind düster, denn bald kommt der Winter. Ab Oktober ist es in den Bergen kalt. Die Krise in der Krise droht sich noch zu verschärfen.
BLOG-Autor: Florian Lems, Islamabad, 21.8.2010