Islamisten erbeuten bei Vormarsch in Afghanistan massenweise modernes Kriegsgerät
Milliarden von Dollar haben die USA in den vergangenen Jahren ausgegeben, um das afghanische Militär mit dem nötigen Rüstzeug für den Kampf gegen die Taliban auszustatten. Mit der vielerorts nahezu kampflosen Kapitulation der Regierungstruppen fallen Waffen und Ausrüstung nun in die Hände der Islamisten. Zehntausende afghanische Streitkräfte legten in den vergangenen Wochen ihre Waffen nieder - und die Taliban hoben sie wieder auf.
Die Kanäle der Islamisten in den Online-Netzwerken sind voller Videos die zeigen, wie ihre Kämpfer Waffenlager übernehmen, mit erbeuteten Fahrzeugen patrouillieren oder vor Militärhubschraubern posieren. Aufnahmen aus der nördlichen Stadt Kunduz zeigen Taliban-Kämpfer am Steuer von mit schweren Waffen und Artilleriegeschützen bestückten Armeefahrzeugen. In der westlichen Stadt Farah fuhren die Aufständischen gar in Fahrzeugen mit dem Logo des afghanischen Geheimdienstes auf.
Fahrzeuge, Schusswaffen und Munition
Die US-Truppen hätten bei ihrem Abzug zwar ihr "hochentwickeltes" Equipment mitgenommen, sagt die Expertin für bewaffnete Konflikte Justine Fleischner von der britischen Organisation Conflict Armament Research. Aber insbesondere Fahrzeuge, Schusswaffen und Munition, die für die afghanischen Streitkräfte bestimmt waren, fielen nun massenweise in die Hände der Islamisten.
Zwar sind die Taliban ohnehin längst keine schlecht ausgerüstete Truppe mehr. Es wird vermutet, dass die Extremisten insbesondere in Pakistan über finanzstarke Unterstützer verfügen. Dennoch gehen Experten davon aus, dass die Übernahme modernen US-Materials ihnen noch einmal starken Aufwind geben wird.
Für Raffaello Pantucci vom Sinpagurer Think Tank S. Rajaratnam School of International Studies ist klar, dass die erbeuteten Waffen beim anstehenden Angriff auf die Hauptstadt Kabul, der letzten Bastion der Regierungstruppen, zum Einsatz kommen werden. Darüber hinaus unterstreiche das moderne Material rein symbolisch die "Autorität" der Taliban in den eingenommenen Städten und Gebieten. "Das ist unglaublich ernst. Es ist ein gefundenes Fressen für sie", sagt Pantucci.
Biden: Haben alle Mittel zur Verfügung gestellt
Vom Flughafen von Kunduz kursieren Aufnahmen jubelnder Taliban-Kämpfer mit einem erbeuteten Hubschrauber. Der ehemalige CIA-Mitarbeiter und Experte für Terrorismusbekämpfung, Aki Peritz, geht allerdings davon aus, dass derartige Errungenschaften keine direkte Auswirkungen auf das Kampfgeschehen haben werden - denn dafür fehlten den Taliban die Piloten. "Sie werden lediglich für Propagandazwecke genutzt werden."
"Wir haben unseren afghanischen Partnern alle Mittel zur Verfügung gestellt - ich betone: alle Mittel" - das sagte US-Präsident Joe Biden vor wenigen Wochen. Er verteidigte so seine Entscheidung, die US-Truppen aus Afghanistan abzuziehen und den Kampf gegen die Islamisten den Afghanen selbst zu überlassen.
Dabei war Washington durchaus schon länger davon ausgegangen, dass die Taliban US-Waffen erbeuten könnten, wie US-Veteran Jason Amerine sagt. Das Pentagon habe dies bei seinen Plänen zur Beschaffung von Ausrüstung für die afghanischen Streitkräfte bedacht. Aber ein derart schnelles Vorrücken der Aufständischen, wie es aktuell zu beobachten ist, sei dabei "das Worst-Case-Szenario gewesen", sagt Amerine, der beim US-Einmarsch in Afghanistan 2001 eine Spezialeinheit leitete.
Und beispiellos ist die aktuelle Entwicklung ebenfalls nicht. Ähnliches passierte im Irak, als die Jihadistenmiliz "Islamischer Staat" (IS) Mitte 2014 nach dem US-Truppenabzug die Stadt Mossul überrannte. Waffen und Fahrzeuge, die von der US-Armee beschafft worden waren, fanden neue Besitzer. Gut gerüstet - auch und insbesondere für die Selbstinszenierung in den Online-Netzwerken - errichtete der IS von dort aus sein selbsternanntes Kalifat.