Jaroslaw Hryzak

Ukraine-Experte: Keine Hoffnung auf Kriegsende 2024

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Der bekannte ukrainische Historiker und Intellektuelle Jaroslaw Hryzak hat keine Hoffnung auf ein Ende des Ukraine-Krieges 2024. 

 "Ich sehe einstweilen nicht, wie dieser Krieg innerhalb weniger Monate oder selbst im laufenden Jahr zu Ende gehen könnte", erklärte Hryzak am Donnerstagabend in einem Gespräch mit der APA in Wien. Gleichzeitig zeigte er sich skeptisch, ob Präsident Wolodymyr Selenskyj und sein Team professionell genug für die Umsetzung notwendiger Reformen sind.

"Man soll sich auf einen längeren Krieg einstellen und so er schneller zu Ende gehen sollte, sehr glücklich sein. Aber nicht umgekehrt - auf ein schnelles Ende hoffen und dann deprimiert sein, wenn es nicht dazu kommt", sagte Hryzak. Er sehe für 2024 keine radikalen Veränderungen der Situation. So es aber zu strukturellen Reformen kommen sollte und der Westen stärker helfe, wäre 2025 das "beste und wahrscheinliche Jahr" für eine Wende, erläuterte er am Rande eines von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, der Österreichisch-ukrainischen Historikerkommission und dem Institut für osteuropäische Geschichte der Universität Wien veranstalteten Vortrags zur Vorgeschichte des Kriegs.

Putin  traf Entscheidung bereits 2008

An der Uni Wien vertrat der Lemberger dabei die These, dass die Grundsatzentscheidung des russischen Präsidenten Wladimir Putin zu einer Invasion der Ukraine bereits Ende 2008 und die finale Entscheidung zum Einmarsch im Nachbarland dann im September 2021 gefällt worden sei.

Die aktuelle militärische Situation verglich der Historiker mit dem Stellungskrieg im Ersten Weltkrieg, der auch ein Abnutzungskrieg gewesen sei. Putin habe diesen Zusammenhang verstanden, bisher jedoch vergeblich versucht, die Ukraine zum Kollabieren zu bringen.

Angesichts der größeren menschlichen und natürlichen Ressourcen und auch mehr Waffen auf der russischen Seite habe die Ukraine aber ohne westliche Hilfe keine Chance, Russland stand zu halten. Andererseits sei es sehr wichtig zu verstehen, dass aber auch Russland keine Chance habe, so der Westen die Ukraine unterstütze, sagte er. So die erforderliche Ausbildung sowie die benötigten Waffen verfügbar wären, könnte sich der Charakter des Krieges auch wieder ändern. Eine ukrainische Kontrolle über die Transportwege auf die Krim könnte etwa Auswirkungen auf Russland haben, Putins Schwäche deutlich machen und seine Macht kollabieren lassen, spekulierte der Ukrainer.

Freundlich charakterisierte Hryzak den ukrainischen Generalstabschef Walerij Saluschnyj, den er im vergangenen September zu einem "zwei-, dreistündigen Gespräch" getroffen hat. Positiv beeindruckt habe ihn dabei die Besonnenheit des Spitzenmilitärs, der die russische Armee nicht unterschätze, sowie sein Humor - auf seinem Arbeitstisch stünden Figuren von Jedi-Rittern aus den Star Wars-Filmen. Zudem sei der General jemand, der Bücher lese.

Gegenoffensive  

Dass Saluschnyjs Gegenoffensive im vergangenen Sommer gescheitert sei, habe damit zu tun gehabt, dass Vorbedingungen für einen Erfolg gefehlt hätten: Es habe keine Luftunterstützung gegeben und entscheidende Waffensysteme seien noch nicht von den USA geliefert worden, erklärte der Historiker. "Im Grunde genommen war das (die Gegenoffensive, Anm.) eine politische Entscheidung", sagte er.

Kritische Anmerkungen machte der Lemberger indes zu Präsident Selenskyj. Er habe bei den Präsidentschaftswahlen 2019 nicht für ihn gestimmt, schilderte Hryzak. Der Krieg habe Selenskyj aber grundlegend verändert und seine Performance war zunächst perfekt. Mit dem Abnutzungskrieg sei nun ein neuer Zustand eingetreten und hier hätten für Selenskyj Probleme angefangen, weil er als Künstler impulsiv agiere. "Nun muss die Ukraine systematische Reformen durchführen und ich sehe ihn nicht als dazu fähig sowie ihn und sein Team als professionell genug, um mit diesen Reformen zu beginnen", sagte der Historiker und verwies auf einen diesbezüglichen westlichen Druck auf Selenskyj. Freilich gebe es auch Ausnahmen in Selenskyjs Team - Verteidigungsminister Rustem Umjerow sei etwa ein Profi.

Der 1960 geborene Professor an der Katholischen Universität in Lwiw erzählte aber auch von deutlichen Auswirkungen des Krieges auf seine Disziplin. "Alle meine Doktoranden haben sich freiwillig gemeldet und sind an der Front", sagte Hryzak. Manche Historiker beschäftigten sich zudem mit Gegenpropaganda und andere setzten ihre Forschungen fort, weil sie es für wichtig erachteten, die Normalität aufrecht zu erhalten. Das akademische Leben in der Ukraine sei derzeit jedenfalls weiblich dominiert.

Große Herausforderungen sieht der Historiker für seine Zunft auch beim künftigen Schreiben der Geschichte dieses Krieges nach seinem Ende. "Zu diesem Krieg gibt es eine Überfülle an Materialien, etwa Videos, und ist es schwer vorstellbar, was man mit ihnen machen soll", sagte er. Er selbst habe mit Kolleginnen und Kollegen bereits 2022 Interviews mit Flüchtlingen geführt, auch sammle man etwa Erinnerungen und Berichte von Historikern an der Front. Dabei gehe es insbesondere um die Fragen, wie Geschichte ihnen hilft, die aktuellen Vorgänge zu verstehen, und wie die Front ihr Verständnis von Geschichte verändert hat, erläuterte Hryzak.

(Das Gespräch führte Herwig G. Höller/APA)

(Redaktionelle Hinweise: Alternative Schreibweisen: Yaroslav Hrytsak)

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