Europa-Perspektiven

Interview mit Josep Borrell

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ÖSTERREICH im Interview mit dem europäischen Parlamentspräsidenten Josep Borrell über den EU-Beitritt der Türkei und die Europa-Skepsis der Österreicher.

ÖSTERREICH:
Das Europäische Parlament hat eine sehr türkeikritische Stellungnahme verabschiedet. Sehen Sie die Verhandlungen mit der Türkei in Gefahr?

BORRELL:
Die Gespräche sind sehr schwierig, wie jeder weiß. Man fährt natürlich sehr große Geschütze auf, wenn man davon spricht die Verhandlungen zu unterbrechen. Das einzige was das Parlament zurzeit macht, ist Warnungen auszusprechen. Wir wollen die türkische Regierung dazu einladen, den Reformprozess weiter zu führen.

ÖSTERREICH:
Aber in der Türkei werden die konservativ-religiösen Kräfte immer stärker. Ab wann geraten die Gespräche wirklich in Gefahr?

BORRELL:
Das ist sehr schwierig festzulegen. Aber die Zypernfrage birgt die größere Gefahr, dort gibt es eine konkrete Fragestellung: der Zugang zu türkischen Häfen und zu den Flughäfen. Da kann man konkrete Forderungen festmachen und auch konkrete Fristen festlegen, bis diese Forderungen erfüllt sind.

ÖSTERREICH:
Sind Sie persönlich für Aufnahme der Türkei in die EU?

BORRELL:
Meine persönliche Meinung wiegt wenig. Schwerwiegender ist die Meinung des europäischen Parlaments. Das hat sich für den Beitritt der Türkei ausgesprochen. Und ich war ja auch für die Aufnahme der Verhandlungen.

ÖSTERREICH:
Können Sie abschätzen, wann man mit der Türkei zu einer Einigung kommen wird? In zehn oder in zwanzig Jahren?

BORRELL:
Man muss dies mit anderen Beitrittsprozessen vergleichen. Spanien musste elf Jahre nach dem Tod von General Franco warten. Und das Spanien von 1975 war sicherlich näher dran an Europa als die Türkei heute. Österreichische Nachbarstaaten mit einem unbefleckten europäischen Leumund wie Ungarn und die Tschechische Republik mussten 15 Jahre warten. Unter 15 Jahren sehe ich keinen Abschluss dieses langfristigen Prozesses.

ÖSTERREICH:
Zwei Drittel der Österreicher haben für den Beitritt zur EU gestimmt. Mittlerweile ist die Begeisterung für die EU dramatisch gesunken. Wie erklären sie sich das?

BORRELL:
Da fragen sie den Falschen, (lacht) ich bin kein Experte in der gesellschaftspolitischen Realität Österreichs. Aber ich glaube, dass sich die Österreicher im Alltag der Vorteilen der EU nicht bewusst sind.

ÖSTERREICH:
Werden die Vorteile nicht genügend kommuniziert?

BORRELL:
Sie werden vielleicht wird nicht genügend erklärt. Was wäre mit Österreich ohne EU bei Welthandelsgesprächen mit der WTO? Was wäre das Gewicht Österreichs alleine am Tisch mit all den anderen? Es wäre wie Andorra. Es gibt keine Grenzen mehr und eine gemeinsame Währung. Wir nehmen das schon als Naturgesetz. Im Grunde könnte man alles auf eine einfache Frage zurückführen: die Österreicher, die Spanier, Iren, die Finnen – wollen sie Gewicht haben, oder nicht? Wollen sie die Geschicke der Welt mitbestimmen, Einfluss ausüben oder wollen einfach alles über uns ergehen lassen? Wenn wir was ausrichten wollen, dann müssen wir das zusammen tun.

ÖSTERREICH:
Die Österreicher wollen immer alles, gleich und sofort.

BORRELL:
Das trifft auf alle Bürger der demokratischen Gesellschaften zu. Das Bewusstsein über die eigenen Rechte ist sehr gut entwickelt, das Pflichtbewusstsein nicht so gut.

ÖSTERREICH:
Die Regierung Schüssel wurde bei ihrem Antritt sanktioniert. Jetzt haben wir in der EU Regierungen, die es nicht sehr genau nehmen mit den europäischen Werten. Warum unternimmt man gegen Staaten wie Polen oder Slowakei nichts?

BORRELL:
Hervorragende Frage. Es ist klar, dass sich die Situation wiederholt. Aber die Antwort ist nicht die Gleiche, wie sie damals gegen Österreich gewesen ist. Vielleicht weil wir Schlüsse gezogen haben, dass es nicht richtige Antwort gewesen ist. Manchmal ist die Medizin schlimmer als die Krankheit. Oder Krankheiten heilen von selbst. Ich bin über die Zunahme extrem rechter Phänomene und ethnischer Konflikte in Europa besorgt. Wir dachten, wir hätten sie hinter uns gelassen. Leider ist dem nicht so.

ÖSTERREICH:
Was kann das EU-Parlament dagegen tun?

BORRELL:
Das Parlament hat über die Slowakei und Polen debattiert. Das Europäische Parlament hat eine wichtige Rolle als moralische Instanz. Es müssen sofort die Alarmglocken läuten, wenn sich Probleme auftun.

ÖSTERREICH:
Glockenläuten allein ist wenig. Muss man nicht offensiver dagegen angehen?

BORRELL:
Die Macht des Parlaments liegt im gesprochenen Wort. Wir leben in einer Mediengesellschaft, da ist das Wort ist sehr, sehr wichtig. Hätte es ein Europäisches Parlament gegeben, als erste Steine gegen jüdische Geschäfte in Deutschland geworfen wurden, wäre es vielleicht nicht zum Holocaust gekommen.

ÖSTERREICH:
Soll in der neuen Verfassung festgeschrieben werden, dass das Parlament mehr Durchsetzungskraft gegenüber der Kommission haben soll?

BORRELL:
Das Europäische Parlament hat schon eine gewisse Macht. Schrittweise übt es auch seine Machtinstrumente aus, das ist in der Vergangenheit nicht immer so gewesen. Es freut mich sagen zu können, dass in meiner Amtszeit das Parlament volljährig geworden ist. Wir haben einfach die Instrumente benutzt, die wir schon hatten. Oder wir haben unsere legislativen Instrumente ausgelotet, zum Beispiel bei der Dienstleistungsrichtlinie, wo wir gegen die Kommission und gegen den Rat aufgetreten sind. Es leitet sich aus der Logik des institutionellen Aufbaus Europas ab, dass das Europäische Parlament irgendwann mal mit dem Rat in Gesetzgebungsfragen gleich gestellt wird.

ÖSTERREICH:
Wünschen sie sich einen Europäischen Bundesstaat?

BORRELL:
Das ist eine trickreiche Frage. Ich gehe davon aus, dass die Zusammenlegung von Souveränität zu größerer Souveränität führt. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass wenige formale Souveränität größere reale Souveränität mit sich bringt. Ein praktisches Beispiel ist die Währung: Keine eigene Währung zu haben bedeutet formal gesehen weniger Souveränität. Seit dem Mittelalter war die eigene Währung praktisch das Aushängeschild der staatlichen Souveränität. Aber Spanien hätte nicht die Truppen aus dem Irak zurückziehen können, wenn es nicht den Euro gehabt hätte. Mit der Peseta wäre es unmöglich gewesen. Spanien wäre an den Währungsmärkten abgestraft worden. Ich komme auf meine These zurück: Weniger formale Souveränität kann mehr reale Souveränität mit sich bringen.

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