Die Europäische Zentralbank (EZB) wird die massive Unterstützung des Finanzsystems mit billigem Geld und rekordniedrigen Zinsen erst dann wieder zurückfahren, wenn Inflationsgefahr droht. Noch sei der richtige Zeitpunkt für einen Ausstieg aus der Krisenpolitik nicht gekommen, bekräftigten mehrere Top-Notenbanker. Man werde aber gegensteuern, sollte der Preisdruck durch die Aufschwungkräfte zu stark werden.
Am Donnerstag hatte die EZB Euro den Leitzins bei einem Prozent belassen. Er liegt seit Mai auf diesem Rekordtief. Notenbankchef Jean-Claude Trichet sagte am Freitag auf einer Konferenz in Frankfurt, die EZB könne jederzeit flexible reagieren, falls die Inflation anziehe und die Verspannungen an den Finanzmärkten anhielten.
"Unser Regelwerk erlaubt es, die kurzfristigen Zinsen zu ändern, auch wenn wir unsere unkonventionellen Maßnahmen weiter laufen lassen, falls dies nötig ist", sagte Trichet. "Diese Möglichkeit hat wichtige Konsequenzen: sie bedeutet, dass der EZB-Rat Zinsmaßnahmen mit der Rücknahme der Liquiditätsmaßnahmen kombinieren kann. Es gibt keine festgelegte Abfolge von Änderungen des Leitzinses und der Rücknahme der anderen Maßnahmen."
Der Chef der Deutschen Bundesbank, Axel Weber, erklärte in Berlin, die Krise sei noch keineswegs vorbei. "Die globale Rezession läuft aus, doch es bleiben gewaltige Unsicherheiten", warnte er. "Wahrscheinlich stehen uns noch weitere Prüfungen bevor." Auch EZB-Chefvolkswirt Jürgen Stark warnte vor allzu voreiligem Optimismus, die Risiken seien weiterhin enorm hoch. Trichet erwartet deshalb auch lediglich eine "holprige" Rückkehr zur Normalität.
Dennoch sei es notwendig, bereits jetzt einen klaren Plan für eine Rückführung der Krisenmaßnahmen zu entwickeln. "Noch ist nicht die Zeit gekommen, aber ich möchte es ganz klar machen, dass wir eine Ausstiegsstrategie haben und dass wir diese auch umsetzen werden, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist", sagte Trichet. Viele von der EZB ergriffenen Maßnahmen, etwa bei der freigiebigen Versorgung des Bankensystems mit billigem Geld würden weitgehend ohne Zutun der EZB einfach auslaufen, wenn sie nicht verlängert würden.
Die EZB hat im Kampf gegen die schwerste Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten ihren Leitzins auf rekordniedrige 1 Prozent gesenkt und unterstützt das Finanzsystem mit milliardenschweren Liquiditätsspritzen. Damit diese Politik des billigen Geldes keinen massiven Anstieg der Teuerung nach sich zieht, muss die Notenbank die Maßnahmen in den kommenden Monaten und Jahren wieder auf Normalmaß stutzen und auch den Leitzins wieder erhöhen.
Analysten erwarten aber, dass die Notenbank noch bis weit ins kommende Jahr hinein ihre derzeitigen Kurs nicht ändert. Ökonomen rechnen frühestens im dritten Quartal 2010 mit einer ersten Zinserhöhung. Auch andere wichtige Notenbanken wie die Federal Reserve (Fed) in den USA oder die Bank von England dürften noch eine ganze Weile nicht an der Zinsschraube drehen. Sie haben in den vergangenen beiden Jahren deutlich mehr unkonventionelle Schritte unternommen als die EZB.
Weitere Minus-Quartale nicht ausgeschlossen
Für EZB-Chefvolkswirt Jürgen Stark ist das Ende der Rezession noch keine ausgemachte Sache. Er schließe weitere Quartale mit negativen Wachstum in der nächsten Zeit nicht aus, sagte Stark am Rande einer Konferenz in Frankfurt. "Wir dürften in den kommenden Quartalen eine Oszillation um die Nulllinie sehen. Ich kann nicht ausschließen, dass es einige Quartale mit leicht positiven, aber auch ein oder zwei Quartale mit leicht negativen Wachstumsraten geben wird." Solche Rückschläge müssten nach der schwersten Rezession seit Jahrzehnten aber ins Kalkül gezogen werden.
Obwohl Zweifel an der Nachhaltigkeit der jüngsten Konjunkturerholung blieben, hoffe die EZB auf eine Rückkehr auf den Wachstumspfad. Hoffnungsvoll stimme beispielsweise die Entwicklung in Asien, wo sich der Handel zu erholen begonnen habe. Dies wirke sich auch auf andere Weltregionen, etwa Europa, aus. "Ja, es ist wahr. Wir sind vorsichtig optimistisch. Es ist sehr wahrscheinlich, dass wir Wachstum früher sehen werden als erwartet, aber das ist unserer Meinung nach hauptsächlich zurückzuführen auf temporäre Maßnahmen." Die Konjunkturpakete der Regierungen und das billige Geld der Notenbanken verzerrten die wahre Situation.
IWF-Chef mahnt Finanzmarktreform ein
IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn hat die Staatengemeinschaft unterdessen aufgefordert, bei der Neuordnung der globalen Finanzmärkte nicht nachzulassen. "Ich fordere die Politik auf, an den Reformbemühungen festzuhalten", sagte Strauss-Kahn in Berlin auf einer Veranstaltung der Deutschen Bundesbank laut im Voraus übermittelten Redemanuskript. Er habe die Sorge, dass der Reformwille nachlasse. "Ich sehe einige Bereiche, in denen die Wiederherstellung der Finanzmarktstabilität beschleunigt werden muss."
Werde nichts getan, bestehe die ernste Gefahr, dass Risiken auf den internationalen Finanzmärkten zurückkehren mit entsprechenden Folgen für die Weltwirtschaft. Er habe die Sorge, dass nach der Krise die Finanzwirtschaft zu einer "Business as usual"-Mentalität zurückkehre und so wirkliche Fortschritte verhindere. Der IWF-Chef warnte vor einem zu schnellen Ausstieg aus den staatlichen Anti-Krisen-Programmen. Die Weltwirtschaft erhole sich zwar von der schwersten Krise seit Jahrzehnten, sagte Strauss-Kahn. "Wie auch immer, ich erwarte, dass dieser Aufschwung relativ schleppend sein wird." Es gebe nach wie vor Risiken.
Hohe Arbeitslosigkeit in 3. Krisen-Phase
"Ein zu schneller Ausstieg aus den geld- und finanzpolitischen Maßnahmen ist eine wesentliche Sorge." Der IWF-Chef verwies auf einen starken Anstieg der Arbeitslosigkeit, der in einer dritten Krisen-Phase folgen werde. "Wir erwarten eine steigende Arbeitslosigkeit im nächsten Jahr. Ein Aufschwung ohne Beschäftigung bleibt ein Risiko." Daher sollte die Politik vorsichtig sein bei ihren Entscheidungen für Ausstiegsstrategien. Diese sollten erst gestartet werden, wenn es Anzeichen für einen stabilen Aufschwung gebe und für eine sinkende Arbeitslosigkeit.
Dennoch sei der Zeitpunkt richtig, solche Szenarien bereits zu entwickeln: "International koordinierte Ausstiegsstrategien sind wichtig, wenn nicht sogar wichtiger, als die sehr gute Koordination bei den Anti-Krisen-Programmen." Strauss-Kahn mahnte die Notenbanken, ihre Unabhängigkeit zu bewahren. Der Druck der Politik könnte zunehmen. Nach den Worten des IWF-Chefs ist der US-Dollar während der Krise gestärkt worden. Die US-Währung sei weiter der unangefochtene sichere Hafen.