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Kuttner: Seelen-Strip mit Meerblick

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Die TV-Moderatorin („Mängelexemplar“) schrieb „180 Grad Meer“.

Es ist ein eigenes Genre, das seit einigen Jahren verlässlich die Bestsellerlisten füllt: Fernsehmoderatorin beschreibt in Romanform die Gefühlswelt ihrer Generation. Neben Charlotte Roche (Feuchtgebiete) fischt auch Sarah Kuttner seit ihrem Debüt Mängelexemplar im Jahr 2009 in diesem Gewässer, an dem sich orientierungslose Frauen um die 30 offenbar gern erfrischen. Neue Gelegenheit dazu bietet 180 Grad Meer.

Kuttners bereits dritter Roman (erschienen bei S. Fischer) entführt den Leser in die Lebensumstände einer jungen Frau, die ihren Job als Sängerin in einer Bar eigentlich hasst, ihrem Chef ab und zu sexuell zu Diensten ist und das Telefon nur ungern abhebt, wenn ihre depressive Mutter anruft. An ihren Freund hat sie sich so sehr gewöhnt, dass sie ihn vernachlässigt, und als er sich von ihr trennt, bricht sie Hals über Kopf nach London auf, um sich mit ihrem Bruder niederzukiffen.

Seit frühester Kindheit ist Jule, so ihr Name, fasziniert vom unverstellten Blick auf das Meer (eben „180 Grad Meer“). Also schnappt sie sich den Hund der Mitbewohnerin und fährt an die englische Küste, wo zufällig auch gerade ihr Vater an Krebs stirbt. So weit der Inhalt dieses wortreichen Seelenstrips, der an vielen Stellen durchaus selbstironisch daherkommt. Da spricht die Protagonistin selbst von „schiefen Bildern“ und ärgert sich über die Vorhersehbarkeit der eigenen Gefühle und Reaktionen.

»Sex ist ein mächtiges Werkzeug«

Gelungen sind die Charakterisierungen einzelner Figuren, die nach ihrem ersten Aufflammen jedoch auf der Stelle treten und sich keiner Entwicklung unterziehen. Über den Lebensgefährten Tim heißt es etwa: „Er bildet gern Paare. Wenn es zwei bewegliche Komponenten in der unmittelbaren Nähe voneinander gibt, sollen sie miteinander verbunden sein. Bestenfalls mit einer Schleife“, schreibt Kuttner, wenn Jule über die zusammengebundenen Schuhe Tims vor der Haustüre stolpert. Immer wieder tauchen diese losen Enden und Tims Wunsch, alles zusammenzuhalten, auf.

Zum Sex hat sie sich ihre Meinung gebildet: „Ich habe schon früh begriffen, was für ein mächtiges Werkzeug Sex ist“, heißt es. Und zwei Seiten später: „Ich hatte wirklich viel Sex, bis ich zwanzig wurde.“ Und dann: „Ich liebte es, so unsichtbar zu sein beim Sex. Unter jemandes Hitze zu liegen und seine sexuelle Begeisterung zu beobachten, zu verschwinden in all der Lust. (...) Sex erlaubt fast alles, was ich in mir trage: Sex gewährt Wut, es ist sogar Platz für Verachtung. Beim Sex darf man nehmen, statt zu geben. (...) Je ignoranter mein Sparringspartner, desto entspannter bin ich in diesem Pool aus anonymer Nähe.“

»Wirklich nahe kommt sie nur ihrem Hund«

Mit diesem Zugang kann Tim verständlicherweise wenig anfangen, siehe lose Enden. Doch genau ein solches ist Jule. Wie ein offenes Schuhband zieht das Leben die junge Frau hinter sich her, ohne dass dabei große Spuren hinterlassen werden. Sich festlegen, nachhaltige Entscheidungen treffen, für Geld arbeiten oder bei einem Mann bleiben, das ist Jules Sache nicht. Selbst als sie auf ihren sterbenskranken Vater trifft, will kein Gefühl aufkommen. Wirklich nahe kommt sie nur dem Hund, den sie sich ausgeliehen hat. Und irgendwann will keiner mehr so genau zuhören, wenn sich Jule in immer gleichen Phrasen auskotzt. Da geht es dem Leser mitunter nicht anders. Ein Buch allerdings kann man zuklappen.

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