Fall Kampusch

Pilz: "2 Mio. Schadenersatz für Natascha"

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Der Fall Kampusch bewegt wieder einmal das ganze Land.

London, Amsterdam, Berlin, Paris – heute beginnt Natascha Kampusch (22) ihr Lese-Reise durch Europa. Das Interesse wird überall groß sein.

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800 Leute hatten sich Donnerstag in die Thalia-­Filiale in Wien gedrängt, um das Entführungsopfer erstmals live sehen zu können. Bewacht von 31 Securitys, 60 Thalia-Mitarbeitern, sechs Detektiven in Zivil las sie 67 Minuten lang fünf Passagen aus ihrem Buch. Erst mit belegter Stimme, dann zunehmend befreit.

„Erst jetzt kann ich mit diesen Zeilen einen Schlussstrich ziehen und wirklich sagen: Ich bin frei.“ So endet das Natascha-Buch. Mehr Hoffnung als Realität. Richtig frei, das wird sie wohl auch jetzt nicht sein. Vielleicht nie. Das Schöne sei nicht so eingetroffen, sagt sie, die vagen Vermutungen über das Schlechte schon.

Achteinhalb Jahre lebte sie gefangen in Strasshof bei Wien. In einem Haus ­eines Spießers, wie ÖSTERREICH jetzt mit neuen Fotos dokumentieren kann. Wohnzimmer (dunkler Holzwandschrank, grüne Ledergarnitur) bis Küche (düster, die Fliesen manisch blank geputzt) – alles hier atmet den Mief eines neurotischen Psychopathen, wie Wolfgang Priklopil (starb mit 44) einer war.

Hier machte Priklopil sein Opfer zur Sklavin. „Ich weiß nicht, wie oft ich den Boden und die Fliesen in der Küche geschrubbt und poliert habe. Nicht die kleinste Wischspur, nicht der kleinste Krümel durfte die glatten Flächen trüben … Im Haus musste ich immer halb nackt arbeiten und im Garten durfte ich keine Unterwäsche tragen.“

Im Keller des Hauses der echte Horror – das Verlies, 2,70 Meter lang, 1,80 Meter breit, 2,40 Meter hoch. „Keine fünf Quadratmeter Bodenfläche, auf denen ich wie ein Tiger im Käfig hin- und herging“, schreibt Natascha in ihrem Buch. „Sechs Schritte hin, sechs Schritte zurück maß die Länge. Vier Schritte hin und vier Schritte zurück maß die Breite.“

Priklopil baute das Gefängnis aus, stellte ein Hochbett auf (es reichte fast bis an die Decke), installierte eine Sanitärecke. „Im Verlies gab es nur das Doppel-Waschbecken aus Nirosta und kaltes Wasser. Er brachte mir warmes Wasser in Plastikflaschen nach unten. Ich musste mich ausziehen, in eines der ­Becken setzen und die Füße in das andere stellen.“

Anfangs übergoss er mich dann einfach mit warmem Wasser. Später kam ich auf die Idee, kleine Löcher in die Flaschen zu stechen. So entstand eine Art Dusche. Wegen der beengten Länge musste er mir beim Waschen helfen, es war ungewohnt für mich, nackt vor ihm zu stehen, einem fremden Mann. Was wohl dabei in ihm vorging?“

Und immer wieder Prügel. Aus Nichtigkeiten. Bis sie die Gelegenheit fand und endlich flüchtete.

 

 

ÖSTERREICH: Kampusch beendet ihr Buch mit „Jetzt bin ich frei“. Der Fall ist für sie abgeschlossen. Auch für Sie?

Peter Pilz: Was den Kriminalfall betrifft, vielleicht. Was aber das polizeiliche Versagen und die politische Vertuschung betrifft, mit Sicherheit nicht. Hier muss lückenlos aufgeklärt werden – auch im Sinne von Frau Kampusch, der ein namhafter Betrag als Schadenersatz zusteht.

ÖSTERREICH: Welche Höhe halten Sie für realistisch?

Pilz: Mindestens ein bis zwei Millionen Euro.

ÖSTERREICH: … bisher gab’s keine über 300.000 Euro …

Pilz: Einen derartigen Fall hat’s aber noch nicht gegeben. Es ist schwer zu bemessen, was ein grob fahrlässiges oder schuldhaftes Verhalten einer Behörde wert ist, das dazu führt, dass ein Mensch vier oder acht Jahre unnötig in einem Verlies verbringt. Bei seriöser kriminalpolizeilicher Arbeit hätte die Chance bestanden, Frau Kampusch schon kurz nach der Tat zu befreien, und ein zweites Mal bei der Evaluierung vier Jahre später, 2002. Beim ersten Mal haben die Beamten alles verpfuscht und in einer Art und Weise diesen Fall verschlampt, wie ich das in der österreichischen Polizei nie für möglich gehalten hätte. Ich bin mir heute noch nicht sicher, ob das alles nur durch Schlamperei erklärbar ist …

ÖSTERREICH: Halten Sie sogar Absicht für denkbar?

Pilz: Ich möchte hier nicht weiter spekulieren. Das kann nur im Innenministerium aufgeklärt werden – mit einer Untersuchung, die dort von der ÖVP verhindert wird. Fakt ist aber, dass Natascha Kampusch einmal das Opfer einer Entführung, zweimal das Opfer unfassbar schlechter polizeilicher Arbeit und dann das Opfer einer politischen Vertuschung im Interesse der ÖVP geworden ist. Wesentlich mehr, als einem Entführungsopfer zumutbar ist.

ÖSTERREICH: Kann’s nicht einfach nur so gewesen sein, dass 2002 einfach nach guter österreichischer Art nichts gemacht wurde?

Pilz: Nein, sie haben viel gemacht. Sie haben die unsinnigsten Spuren verfolgt, sie sind den sinnlosesten Hinweisen nachgegangen. Sie haben einen Fall nach ihren Vorstellungen konstruiert und nicht nach Spuren gesucht. Dabei hätten die Hinweise des berühmten Hundeführers, der den Täter gekannt hat, weitere Hinweise auf den weißen Kastenwagen und eine ganze Reihe von Indizien ausgereicht, draufzukommen, dass es in ganz Österreich eine einzige Person gibt, auf die mehrere Spuren hinweisen: Wolfgang Priklopil.

ÖSTERREICH: Sehen Sie noch eine Chance, diese Vertuschungen aufzuklären?

Pilz: Dann, wenn der Untersuchungsausschuss Minderheitenrecht wird. Ein Kampusch-Ausschuss muss untersuchen, wie es passieren konnte, dass bei einer Entführung vom Innenministerium nicht auf die Interessen des Kindes, sondern nur auf die Interessen der ÖVP geschaut wurde.

ÖSTERREICH: Sind Sie nicht ÖVP-fixiert? Hat da nicht einfach die Polizei versagt?

Pilz: Sicherlich war das beängstigend schlechte Polizeiarbeit. Aber spätestens ab 2006 war’s politische Vertuschung, war’s der Missbrauch des Innenministeriums für den Wahlkampf der ÖVP.

ÖSTERREICH: Sie stehen im ­Widerspruch zur Kommission des hochseriösen Professor Adamovich …

Pilz: Ich hatte nicht den Eindruck, dass auch nur ein Mitglied seriös gearbeitet hat. Die Vertuschung im Jahr 2006 ist von der Evaluierungskommission ein weiteres Mal vertuscht worden. Statt seriös zu untersuchen, ist wild auf Kosten von Frau Kampusch spekuliert worden. Bedauerlich, dass der angesehene Professor Adamovich seinen guten Ruf geopfert und sich als Privatdetektiv blamiert hat.

ÖSTERREICH: Was soll jetzt ­geschehen?

Pilz: Ganz einfach: Das Innenministerium muss Schadenersatz leisten – freiwillig. Frau Kampusch soll der Weg zum Gericht erspart werden. Eltern müssen sich endlich wieder darauf verlassen, dass im Fall der Entführung ihres Kindes nur auf das Wohl des Kindes und nicht auf das Wohl der ÖVP geachtet wird.

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