Entführungsopfer

Warum Natascha schweigt

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Drei Jahre nach ihrer Flucht wagt sich nun Natascha Kampusch nicht mehr außer Haus: Gab es neben Wolfgang Priklopil weitere Täter?

Der größte Entführungsfall der Zweiten Republik ist für Natascha Kampusch am 23. August 2006 zu Ende. Sie kommt frei. Doch einen Abschluss der Ermittlungen gibt es immer noch nicht – zu viele Fragen sind bis heute offen.

Vollständige Aufklärung kann nur Natascha Kampusch selbst bringen. Doch sie hat sich völlig aus der Öffentlichkeit zurückgezogen – und kann es so auch vermeiden, dass ihr unbequeme Fragen gestellt werden.

Denn nach jüngsten Aussagen der Mitglieder der Kampusch-Evaluierungs-Kommission wird immer deutlicher, dass es neben ihrem Peiniger Wolfgang Priklopil einen Mittäter gegeben haben könnte. Dieser könnte Natascha nun nach dem Leben trachten. Ex-OGH-Präsident Johann Rzeszut sagte in ÖSTERREICH zuletzt: „Wir fürchten nichts mehr als in einigen Jahren eine Zeitungsmeldung des Inhalts: ‚Natascha Kampusch tot aufgefunden' oder ‚Natascha Kampusch tödlich verunglückt'.“

Drei Gründe könnten nun dazu führen, dass Kampusch schweigt:

-Sie könnte vom Mittäter stark eingeschüchtert worden sein. Schweigen aus Angst wäre die Folge.

-Sie könnte sich mit ihrem Peiniger und auch dessen Mittäter solidarisieren (Stockholm-Syndrom) und aus Loyalität schweigen.

-Die neuerliche Diskussion könnte sie derart belasten, dass sie re-traumatisiert wurde und nun unfähig ist, darüber zu reden.

Der Kriminalpsychologe Reinhard Haller appelliert an Natascha, dennoch die Spekulationen zu beenden – auch zum eigenen Wohl.

Gerichtspsychologe Haller: "Geheimniskrämerei belastet Natascha"
ÖSTERREICH: Wie sehr leidet Natascha Kampusch unter der aktuellen Diskussion um ihren Fall?

Reinhard Haller: Durch Befragungen und neue Ermittlungen kommt es natürlich zu so etwas wie einer Re-Traumatisierung. Das ist nicht angenehm für sie.

ÖSTERREICH: Wird sie nun ein zweites Mal zum Opfer?

Haller: Die Gefahr ist bei Ermittlungen immer gegeben – bei Opfern von Gewaltverbrechen oder sexuellen Missbrauch. Bei Einvernahmen, Gericht und der Öffentlichkeit darüber Auskunft zu geben, ist für das Opfer immer belastend.

ÖSTERREICH: Geht es darum, Abstand zu nehmen – oder um vollständige Aufarbeitung?

Haller: Für mich ist die beste Therapie, alles aufzuarbeiten und zu analysieren. Sozusagen das ganze „Buch“ nochmal zu lesen und dann ins Regal zurückstellen, um Frieden zu finden. Andere wollen keine Erinnerung.

ÖSTERREICH: Natascha Kampusch hat Haus und Auto von Priklopil gekauft. Ist das die Strategie der Aufarbeitung?

Haller: Offensichtlich ja. Es scheint für sie aber auch die öffentliche Diskussion sehr belastend. Da weiß sie jedenfalls mehr als wir alle.

ÖSTERREICH: Kampusch kennt in Österreich jeder. Wäre der Weg ins Ausland gut?

Haller: Sie selbst muss spüren, ob das das Richtige ist.

ÖSTERREICH: Wie ändert sich die Psyche, wenn man jahrelang jemandem ausgeliefert ist?

Haller: Das hängt davon ab, wie gewalttätig die Gefangenschaft war. Ob etwa Todesangst erlebt wurde. Falls der Kontakt zum Entführer auch locker war, ist die Schädigung weniger stark.

ÖSTERREICH: Spielt das Elternhaus eine Rolle, wie man eine Entführung verkraftet?

Haller: Die Selbstsicherheit und Resistenz wird auch durch die Erziehung und familiären Umstände angelegt. Manche Menschen zerbrechen leicht, andere „Unberührbare“ können viel mitmachen und das dennoch gut überstehen.

ÖSTERREICH: Welches Bild vermittelt hier Kampusch?

Haller: Mir hat sie an einen recht sicheren und gesunden Eindruck gemacht.

ÖSTERREICH: Kann sie je ein ganz normales Leben führen?

Haller: Ich sehe nicht, dass alles wieder gut wird. Es werden Narben bleiben. Wichtig ist nun auch Transparenz für die Öffentlichkeit. Je mehr hier Geheimniskrämerei betrieben wird, desto belastender ist es auch für Natascha Kampusch.

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