Die Grünen sind in der Champions League der Innenpolitik angekommen. Der Verkauf von Showeffekten funktioniert schon.
Kommentar von oe24-Chefredakteur Richard Schmitt
© TZOe Artner
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Die neue Infrastrukturministerin Leonore Gewessler lieferte der Mehrheitsbevölkerung des 6. und 7. Wiener Bezirks, also den winterradelnden Grün-Sympathisanten, den ersten Schenkelklopfer: Den bösen, bösen Autofahrern, diesen rücksichtlosen Betreibern diverser vierrädriger Stinker wird jetzt wieder das Tempo 140 auf den wenigen Teilstrecken verboten. Dafür gab's sicher Jubel bei der Zielgruppe, immerhin knapp 13,9 Prozent der österreichischen Bevölkerung.
Die meinungsflexible ÖVP lässt den Grünen ihr Hobby
Sandburgen. In einer Demokratie ist das eben so, dass auch eine Partei, die von 86,1 Prozent der Österreicher nicht gewählt worden ist, mit einem sehr meinungsflexiblen Koalitionspartner derartige Lustigkeiten bestimmen darf: Was Türkis mit Blau noch für gut befunden hat (nämlich plus 10 km/h auf wenigen ausgewählten Autobahnstrecken), muss Türkis mit Grün ja nicht mehr gut finden ...
Und nicht wenige Wähler werden dabei an ihre Kindergartenzeit erinnert: Wenn Du meine Sandburg (Temporeduktion) kaputtmachst, dann mache ich das dann auch mit deiner (minimale Tempoerhöhung).
Das Nein zu Tempo 140 wirkt doch etwas bitzlig
Politshow. Die Grünen wollen jetzt also in der höchsten Liga der Innenpolitik mitspielen, das Land positiv verändern, eine neue Politik mit Charakter und Anstand vorleben. Zumindest wurde uns dies so erklärt. Die Taten widersprechen etwas den geäußerten Worten: Die bitzlige Rücknahme der Tempo-140-Zonen konterkariert die gewünschte Selbstdarstellung - diese Politshow passt nicht ins Burgtheater, sondern nur auf die Löwinger-Bühne.
Kanzler. Dem Bundeskanzler dürfte diese grüne Performance vermutlich ziemlich egal sein: Er macht große Außenpolitik, trifft Angela Merkel, punktet bei seiner Wählerklientel mit klarer Positionierung zu EU-Budget und Schlepperkriminalität.
Und Sebastian Kurz wird zufrieden registrieren, dass seine herzigen Koalitionspartner sich selbst für ihre Retourkutsche gegen die FPÖ abfeiern, aber ihn und die ÖVP nicht mit bedeutender politischer Präsenz belästigen.
Kommentar von ÖSTERREICH-Redakteurin Debora Knob
»Aus für 140: Ein erster Punkt für den Juniorpartner«
Die grüne Umweltministerin muss Tempo 140 abschaffen, sonst wäre sie völlig unglaubwürdig.
Ja, jeder hat seine Zielgruppe. Die FPÖ hat - neben den Rauchern - die Autofahrer auserkoren. Deswegen haben die Blauen in ihrer kurzen Amtszeit auch Tempo 140 auf zwei Teststrecken erlassen. Und nicht, weil es ein verkehrspolitischer Meilenstein wäre, 120 Sekunden früher ans Ziel zu kommen.
Mit 140 steigen laut einer Studie der TU Graz die Schadstoffe um 21 %im Vergleich zu Tempo 130. Dass Österreich permanent Schadstoffgrenzen überschreitet und hohe EU-Strafen drohen, hat man schon bei Einführung von 140 gewusst. Mit Blick auf die FPÖ-Zielgruppe war das damals egal.
Grüne landen derzeit nur schwer bei ihrer Zielgruppe
Eine grüne Umweltministerin, die noch dazu erbittert darum gekämpft hat, den Verkehr ins Ressort zu bekommen, kann jetzt gar nicht anders, als Tempo 140 wieder zurück zunehmen.
Leonore Gewessler hat natürlich auch ihre Zielgruppe. Und die Grünen tun sich derzeit schwer genug, diese zu bedienen. Kanzler Sebastian Kurz und die ÖVP-Minister vertreten in ihren Zuständigkeiten die ÖVP-Positionen -auch auf EU-Ebene - ohne sich viel um eine einheitliche Linie in der Koalition zu schären. Klar können die Grünen bei der Abschaffung der Seenotrettung oder Kopftuchverboten nicht ohne Weiteres mit. Um nicht nach drei Wochen schon in offenen Streit auszubrechen, schweigen sie.
Verordnungen helfen Grünen gegen VP-Übermacht
Deswegen tun die Grünen gut daran, in ihren eigenen Ressorts umzusetzen, was geht - möglichst ohne die Zustimmung der ÖVP. Die 140km/h-Verordnung ist so ein Fall. Gewessler braucht dafür weder einen Ministerratsbeschluss noch eine Mehrheit in Parlament. So wie Norbert Hofer die 140 erlassen hat, kann sie Gewessler wieder auf heben. Sie und ihre grünen Kollegen werden - auch - eine Politik über Verordnungen machen müssen, damit sie zumindest hier und da einen Punkt landen können.
Abgesehen davon: Mehr Schadstoffe, mehr Lärm, eine höhere Gefahr für die Verkehrsteilnehmer: Nicht nur Grüne sollten von dieser Politik des 20. Jahrhunderts schnell Abstand nehmen.