Kanzler Nehammer stellt klar: Österreich könne "auch als neutrales Land nicht wegschauen".
Die Situation in der Ukraine ist "höchst dramatisch", berichtete Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) am Donnerstag im Parlament von einem kurz zuvor geführten Telefonat mit Präsident Wolodymyr Selenskyj. Dieser habe ersucht, seinem von Russland angegriffenen Land beizustehen. Österreich verurteilt auch als neutrales Land Russland scharf und trägt die angekündigten massiven EU-Sanktionen mit, hatten Nehammer und VIzekanzler Werner Kogler (Grüne) schon zuvor versichert.
Sie hatten - begleitet von den Mitgliedern des Krisenkabinetts, allesamt mit schwarzen FFP2-Masken - im Parlament Erklärungen zur Lage in der Ukraine abgeben. Während der Debatte danach meldete sich der Kanzler noch einmal zu Wort und erzählte von einem zwischenzeitlich geführten Telefonat mit dem ukrainischen Präsidenten. Dieser habe gesagt, dass er nicht wisse, wie lange es sein Land noch gebe und wie lange er noch leben werde. Er habe mitgeteilt, dass auch zivile Infrastruktur angegriffen werde, viele Menschenleben schon ausgelöscht seien - und er habe ersucht, der Ukraine beizustehen, mit militärischer und humanitärer Hilfe.
"Können nicht wegschauen"
Österreich könne da "auch als neutrales Land nicht wegschauen", stellte Nehammer fest. "Humanitäre Hilfe ist jetzt mehr als geboten", betonte er die Bereitschaft auch zur Aufnahme von Flüchtlingen. Schon zuvor hatten er und Kogler in ihren Erklärungen unterstrichen, dass Österreich den von Russland eröffneten Krieg auf das Schärfste verurteilt und zu den EU-Sanktionen steht, auch wenn sie wirtschaftlich negative Folgen haben.
Diese Sanktionen werden "nicht leicht sein für die Wirtschaftsbetriebe", die in Russland oder der Ukraine tätig sind, räumte Nehammer ein. Verhandlungen über EU-Kompensationszahlungen würden aber laufen, und er begrüßte das "sehr positive Zeichen" der EU-Kommission, dass man bereit sei, unterschiedlich auf die Betroffenheitslagen einzugehen.
Der Kanzler unterstrich, dass die Versorgung der Haushalte mit Gas bis in den April gesichert sei. Die EU und Österreich bräuchten generell russisches Gas, aber "ob das für die Zukunft so schlau ist, kann man jetzt tatsächlich hinterfragen". Auch die EU bemühe sich um Alternativen, und da könnte es für die Russische Föderation "ein Erwachen" geben.
"Inakzeptabel"
Der russische Botschafter werde ins Außenministerium zitiert, um der Russischen Föderation klar zu machen, dass der Einmarsch in die Ukraine "für uns inakzeptabel ist", berichtete Nehammer. "Wir stehen vor einer Entwicklung, die wir so nicht für möglich gehalten haben. Wir haben tatsächlich wieder Krieg in Europa", zeigte sich der Kanzler "negativ beeindruckt" davon, dass "wir offensichtlich nicht in der Lage sind, aus der Geschichte zu lernen".
Mit klaren Worten bekräftigte er, dass Österreich Flüchtlinge aufnehmen werde. Die Ukraine sei ein europäisches Land mit Grenzen näher an Wien als Vorarlberg. Und es sei immer Österreichs Politik gewesen, "dass Nachbarschaftshilfe Selbstverständlichkeit ist und Menschlichkeit hier in den Vordergrund zu treten hat", erinnerte Nehammer an die Ungarn- und Tschechienkrise sowie den Zerfall Jugoslawiens.
Der Kanzler merkte auch an, dass Russland ein Land "von großer Geschichte" sei - dem "wir auch zu verdanken haben, dass wir vom Nazi-Terror befreit worden sind". Dennoch wähle Russland jetzt "einen Weg, den wir zutiefst ablehnen".
Rolle als Vermittler
Als neutraler Staat werde Österreich "niemals die Rolle des Vermittlers und Brückenbauers" aufgeben - und alles beitragen, "damit wieder der Dialog in den Vordergrund tritt, die Diplomaten die Bühne der Weltpolitik betreten und die Soldaten verschwinden". Aber die Neutralität sei immer klar eine militärische gewesen - und niemals so verstanden worden, "dass wir uns hinter ihr verstecken oder keine Meinung haben sollen". Eine Schlussfolgerung aus der jetzigen Situation ist für Nehammer auch, dass die militärische Landesverteidigung eine "zentrale Rolle für die Sicherheitsarchitektur Österreichs spielen soll und spielen muss".
Auch Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) verurteilte "auf das Schärfste" den Angriff Russland auf die Ukraine - und bekannte sich zu den EU-Sanktionen. Sie könnten für die EU und auch für Österreich zwar einen wirtschaftlichen Rückschlag bedeuten. "Aber Freiheit, Souveränität und das Lebensrecht der Bürger in der Ukraine dürfen kein Preisschild haben", betonte er die Solidarität mit den Bewohnern des von Russland angegriffenen Landes.
Engagierte Neutralität
"Wir werden alle Mittel der Politik, der Diplomatie und der Sanktionen ergreifen um uns hier entgegen zu stellen", betonte der Vizekanzler. Neutralität könne nicht bedeuten, "zuschauen wie eine militärische Großmacht einen Nachbarn überfällt". Österreich bleibe den Prinzipien Freiheit, Frieden, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie verpflichtet.
"Diese Neutralität muss jetzt auch eine engagierte Neutralität sein", befürwortete Kogler massive Wirtschaftssanktionen durch die EU. Wirtschaftliche Hilfe für ukrainische Gebiete, die "noch souverän bleiben können" werde es - zielgerichtet - weiter geben, ebenso humanitäre Hilfe über Hilfsorganisationen, wo man sicher sein könne, dass sie nicht in falsche Hände gerät, verwies er auf das gestern beschlossene Millionen-Hilfspaket. Bei der Aufnahme von Vertriebenen werde sich Österreich als "guter und solidarischer Nachbar erweisen".
In der an die Erklärungen anschließenden Debatte reagierten die Abgeordneten mit Empörung und Wut auf die russische Invasion. Einzig die FPÖ forderte eine neutrale Position Österreichs: "Wenn du nicht stark bist, sei klug", zitierte Klubchef Herbert Kickl den chinesischen Philosophen und Militärstrategen Sunzi.
In den vergangenen Jahren sei es sowohl auf russischer als auch auf NATO- und EU-Seite zu schuldhaftem und provokativem Verhalten gekommen. Die österreichischen Parteien tätigten die Ursachenforschung jedoch nur auf einer Seite: "Das ist weder mutig noch neutral." Die Strategie der Eindimensionalität, Einseitigkeit und Parteilichkeit sei unverantwortlich, findet Kickl. Es sei ein Gebot der Stunde dazu aufzurufen, die Waffen niederzulegen und an den Verhandlungstisch zurückzukehren.
Mit seinem Vortrag fand der FPÖ-Chef wenig Anklang bei den anderen Fraktionen. NEOS-Klubobfrau Beate Meinl-Reisinger betonte, dass über die Sicherheit Österreichs jetzt in der Ukraine entschieden werde: "Hier gibt es keine Neutralität." Empört zeigte sie sich über Putin-Versteher, wo Linke aus modriger Antikapitalismus-Sehnsucht Seite an Seite mit "rechten Recken" marschierten. Was es nun brauche, sei eine gemeinsame europäische Sicherheitsarchitektur - "oder wir scheitern".
Auch SPÖ-Klubobfrau Pamela Rendi-Wagner betonte, dass der Konflikt zwar in erster Linie die ukrainische Bevölkerung betreffe, aber auch Österreich und die EU. Es sei nicht hinnehmbar und auf das Schärfste zu verurteilen, wenn ein Staat internationales Recht breche und auf europäischem Boden mit Gewalt Grenzen verschiebe. Die Neutralität Österreichs sei unumstößlich, Neutralität dürfe aber nicht Gleichgültigkeit gegenüber einem eklatanten Bruch des Völkerrechts bedeuten. Europa müsse nun weitere Sanktionen gegen Putins Russland verhängen und sich auf eine sofortige humanitäre Hilfe verständigen.
Der außenpolitische Sprecher der ÖVP Reinhold Lopatka stellte klar, dass es keine politische Neutralität Österreichs in dieser Frage geben können: "Es geht um unser europäisches Lebensmodell."
Grünen-Mandatarin Ewa Ernst-Dziedzic sah die europäische Sicherheitsinfrastruktur "mutwillig zerstört". Verantwortlich dafür sei auch, dass viele, darunter Rechte wie Sozialdemokraten, in den vergangenen Jahren zu wenig klar gegenüber Russland Position bezogen hätten.