Nach dem Massaker im Kiewer Vorort Butscha muss sich Russland auf eine Verschärfung der westlichen Sanktionen einstellen.
"Wir werden im Kreis der Verbündeten in den nächsten Tagen weitere Maßnahmen beschließen", sagte der deutsche Kanzler Olaf Scholz am Sonntagabend. Verteidigungsministerin Christine Lambrecht hatte zuvor ein Gasembargo ins Spiel gebracht. Während die Ukraine von 410 Leichen in der Hauptstadtregion berichtete, wies Moskau jede Verantwortung von sich.
"Die Ermordung von Zivilisten ist ein Kriegsverbrechen. Diese Verbrechen der russischen Streitkräfte müssen wir schonungslos aufklären", sagte Scholz. "Putin und seine Unterstützer werden die Folgen spüren." EU-Ratspräsident Charles Michel hatte schon zuvor neue Sanktionen angekündigt. Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) sprach ebenfalls von "Kriegsverbrechen", für die sich die russische Armee "zu verantworten" habe, äußerte sich aber nicht zum Thema Sanktionen.
Butscha zählt zu den Orten rund um Kiew, die in den vergangenen Tagen von der ukrainischen Armee befreit worden waren. Fast 300 Leichen wurden dort nach dem russischen Abzug gefunden, hieß es von den Behörden. Viele Tote trugen zivile Kleidung, mindestens einem waren die Hände gefesselt. Offenbar dürften auch in anderen Orten der Hauptstadtregion ähnliche Verbrechen begangen worden sein. Die ukrainische Generalstaatsanwältin Iryna Wenedyktowa sagte am Sonntag, dass 410 Leichen in Orten rund um Kiew gefunden worden seien. Es seien viele Verbrechen begangen worden über würden immer noch begangen. Zudem gab es Hinweise auf gezielte Gewalt gegenüber Frauen. So berichtete der Parlamentarier Olexij Gontaschenko von nackten Frauenleichen, die bei Kiew am Straßenrand gefunden seien. Im Ort Irpin seien Frauen und Mädchen erschossen und dann von Panzern überfahren worden, sagte Bürgermeister Olexander Markuschyn der Deutschen Welle.
"Das ist Völkermord. Die Auslöschung einer Nation und seines Volkes", sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj im US-Sender CBS. "Jeder Verantwortliche für Kriegsverbrechen wird gefunden und bestraft werden", versprach er am Abend in einem weiteren Auftritt. Er habe entschieden, einen "juristischen Sondermechanismus" einzuführen, damit die Verbrechen untersucht und verfolgt werden können. Am Dienstag werde sich auch der UNO-Sicherheitsrat mit den Vorfällen beschäftigen. Es werde auch neue Sanktionen gegen Russland geben, "aber das ist nicht genug". Scharf kritisierte er auch die frühere deutsche Kanzlerin Angela Merkel und den französischen Ex-Präsidenten Nicolas Sarkozy. Sie sollen nach Butscha kommen, "um zu sehen, wohin 14 Jahre des Nachgebens gegenüber Russland führen".
Russland stellte wenig überraschend die Verantwortung für die Gräueltaten in Abrede. Jegliches von der Ukraine veröffentlichte Bild- und Filmmaterial in diesem Zusammenhang stelle eine Provokation dar, meldete die Nachrichtenagentur RIA unter Berufung auf das Verteidigungsministerium in Moskau. "In der Zeit, in der die Siedlung unter der Kontrolle der russischen Streitkräfte stand, hat kein einziger Einwohner unter irgendwelchen Gewalttaten gelitten", teilte das Verteidigungsministerium in Moskau mit. Die Soldaten hätten den Vorort Kiews bereits am Mittwoch verlassen.
"Alle diese Menschen wurden erschossen", sagte Bürgermeister Anatoly Fedoruk. "Sie haben sie mit einem Schuss in den Hinterkopf getötet." Es stünden Autos auf den Straßen, in denen "ganze Familien getötet wurden: Kinder, Frauen, Großmütter, Männer". Die Menschenrechtsorganisation "Human Rights Watch" (HRW) dokumentierte nach eigenen Angaben eine Reihe "offenkundiger Kriegsverbrechen" der russischen Truppen - neben Kiew seien diese auch in den Regionen Tschernihiw im Norden und in Charkiw im Osten des Landes verübt worden.
UNO-Generalsekretär Antonio Guterres zeigte sich "zutiefst geschockt" von den Bildern aus Butscha und drängte auf eine unabhängige Untersuchung. "Man kann nicht anders, als diese Bilder als einen Schlag in die Magengrube zu sehen", sagte US-Außenminister Antony Blinken am Sonntag dem Sender CNN. "Weitere EU-Sanktionen und Unterstützung sind auf dem Weg. Slava Ukrajini!", twitterte EU-Ratspräsident Michel. Der französische Präsident Emmanuel Macron bezeichnete die Bilder "mit Hunderten feige ermordeter Zivilisten auf Straßen" als "unerträglich". "Die russischen Behörden müssen sich für diese Verbrechen verantworten."
"Zutiefst erschüttert" von den "grauenerregenden Bildern" in Butscha zeigte sich Bundespräsident Alexander Van der Bellen. "Diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit, gegen alles wofür wir stehen, werden geahndet werden", betonte der Bundespräsident am Sonntagabend auf Twitter. Zuvor hatte bereits das Wiener Außenamt eine UNO-Untersuchung gefordert. Politiker von Grünen und NEOS forderten eine schärfere Gangart gegenüber Russland. In der ORF-Sendung "Im Zentrum" positionierten sich aber sowohl der Grüne Umweltsprecher Lukas Hammer als auch Ex-Kanzler Christian Kern (SPÖ) und IV-Präsident Georg Knill gegen ein Gasembargo. Ein kompletter Verzicht auf russisches Gas sei "sehr schwer bis unmöglich", sagte Hammer. "Ohne Gas würde es in kürzester Zeit eine Massenarbeitslosigkeit in Österreich geben", sagte Knill. Kern äußerte "Verständnis" dafür, dass Kanzler Nehammer sage, "dass er das nicht machen will".
In Deutschland brachte Verteidigungsministerin Lambrecht einen Gasstopp ins Spiel, verwies aber auf die dafür erforderlichen Abklärungen innerhalb der EU. Wirtschaftsminister Robert Habeck bekräftigte diesbezüglich seine Skepsis. Das "fünfte Sanktionspaket" werde neben persönlichen Sanktionen auch technische Güter betreffen und den Finanzmarkt, sagte er im ZDF. Deutschland zählte bisher gemeinsam mit Österreich zu den Bremsern innerhalb der EU, was einen Verzicht auf russische Gaslieferungen betrifft. Dagegen gaben die baltischen Staaten am Sonntag bekannt, seit Monatsbeginn komplett auf russisches Gas zu verzichten.
Zumindest einen Stopp von Kohle- und Öl-Lieferungen aus Russland forderte der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei im Europaparlament, Manfred Weber. Wie die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas und ihr slowenischer Kollege Janez Jansa plädierte er auch für mehr Waffenlieferungen an Kiew. Der britische Premier Boris Johnson sagte, er wolle "alles in meiner Macht stehende tun, um Putins Kriegsmaschinerie auszuhungern", und zwar mit schärferen Sanktionen und Waffenlieferungen nach Kiew.