Kommentar von ÖSTERREICH-Herausgeber Wolfgang Fellner.
Dass die österreichische Innenpolitik sehr oft einem Kasperltheater ähnelt, ist nichts Neues. Man weiß nie wirklich, ob man sich auf Tschauners Stegreifbühne, im Kabarett oder in der Wirklichkeit befindet.
Der gestrige Tag stellt freilich auch für hartgesottene Innenpolitik-Journalisten ein besonders absurdes Kapitel von politischem Chaos dar.
Drei Stunden lang - von 15 bis 18 Uhr - ließ Christian Kern gestern die über alle Online-, Agentur- und Social-Media-Seiten verbreitete Meldung im Raum stehen, er würde am Mittwoch als SPÖ-Chef zurücktreten, alle seine politischen Ämter niederlegen und in die Wirtschaft wechseln. Sogar von einem Wechsel zu Putins Gazprom war die Rede - das wurde zwar von Kerns Sprecher sofort dementiert, sein Rückzug aus der Politik aber nicht.
Um 17 Uhr trafen sich die über Kerns plötzlichen Abtritt teilweise empörten, teilweise desperaten SPÖ-Granden - es kam hinter verschlossenen Türen zu heftigsten Diskussionen. Und siehe da:
Punkt 18 Uhr trat Christian Kern vor die versammelte Presse, die seinen Rücktritt längst online verkündet hatte, und sagte - "als Einordnung der Debatte der letzten Stunden" - den Rückzug vom Rücktritt an.
Zwar werde er den SPÖ-Parteivorsitz in einem halben Jahr zurücklegen, davor aber noch im Mai 2019 als Spitzenkandidat der SPÖ in die Europa-Wahl gehen - eine politische Sensation.
Als ich das Gerücht, Kern würde als Spitzenkandidat bei der EU-Wahl für die SPÖ antreten, vor vier Wochen in einem "Insider" in ÖSTERREICH als Erster berichtet habe, wurde ich von Kern in den Sommergesprächen via ORF noch heftig zusammengebürstet: Das sei "der größte Schwachsinn", so Kern im ORF wörtlich, "den ich je gelesen habe. Absoluter Mumpitz!"
Jetzt also doch: Christian Kern tritt als SPÖ-Spitzenkandidat bei der EU-Wahl im Mai 2019 an - "der größte Schwachsinn" wird Realität.
Ich bleibe bei meiner Analyse von August: Eine Spitzenkandidatur von Christian Kern bei der EU-Wahl kann für die SPÖ eine ganz besondere Chance darstellen.
Denn nur mit Kern kann die SPÖ diese Europa-Wahl gewinnen. Gegen die eher bescheidene Konkurrenz eines Othmar Karas und eines Harald Vilimsky ist Ex-Kanzler Christian Kern ein Super-Star.
30 % der Österreicher würden Kern heute noch zum Kanzler wählen. Bei einer EU-Denkzettelwahl gegen die unsoziale Politik von Türkis-Blau, gegen 12-Stunden-Tag, Gesundheits-Kürzungen, vor allem aber gegen die rechtsextreme EU-Politik der FPÖ hat Kern allerbeste Chancen mit einer links-grün-liberalen Allianz samt Kleinverdienern und Frauen locker über 30 % der Stimmen zu kommen - damit bei der EU-Wahl Platz 1 zu schaffen und die Kurz/Strache-Koalition in ihre erste Krise zu stürzen.
Um dieses Kunststück zu schaffen, bräuchte es diesmal freilich einen ganz anderen Wahlkampf als das Silberstein-Desaster vor einem Jahr. Kern müsste diesmal eine fulminante Kampagne fahren, zu den Wählern kommen, entschlossen, kraftvoll, siegessicher wirken.
Das gestrige Kommunikations-Desaster rund um seine EU-Kandidatur freilich lässt befürchten, dass der Ex-Kanzler von seinem Wahlkampf-Debakel nichts gelernt hat.
Patscherter und schlechter als Christian Kern gestern hat noch kein Politiker eine Kandidatur angesagt.
Zuerst einmal drei Stunden lang seinen Rücktritt in den Raum zu stellen und die Partei wie einen Hühnerhaufen gackern zu lassen, war schon ein PR-Super-GAU.
Sich dann - ob geplant oder ungeplant - zur EU-Spitzenkandidatur "umsingen" zu lassen, verstärkt den Eindruck vieler Wähler, die EU-Jobs seinen eh nur Versorgungsposten - frei nach dem Motto: "Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa!"
Schließlich völlig unnötig, gleichzeitig (!) mit der Kandidatur den Rücktritt als Parteichef anzusagen, nimmt dem Kern-EU-Wahlkampf gleich jeden positiven Drive. Jetzt geht er als "lahme Ente" in die Europa-Wahl und hat hinter sich eine Partei, die sechs Monate lang um ihren neuen Vorsitz streiten darf.
Christian Kern war als ÖBB-Chef einmal das größte Marketing-Genie dieses Landes - in der Politik ist ihm das Marketing-Talent vorerst völlig abhandengekommen. Die gestrige Anti-Ansage war sein bisheriger Marketing-Tiefpunkt - und das will nach Silberstein, Gusi & Co was heißen.
Trotzdem sollte niemand Christian Kern abschreiben. Bei unseren letzten Interviews habe ich ihn als höchst sympathisch, bürgernah, schlagfertig, witzig - eigentlich als idealen Wahlkämpfer erlebt.
Ein Christian Kern in Hochform kann die türkis-blaue Regierung, vor allem die rechts-rechte Europa-FPÖ von Vilimsky ordentlich vorführen, seine eigene (bei EU-Wahlen sonst verschlafene) SPÖ-Basis mobilisieren - und hat beste Chancen auf Platz 1 im Mai 2019.
Dafür braucht er aber endlich die richtigen Berater (vom Schlag eines Thomas Drozda), das richtige Team (mit Typen wie Rendi-Wagner) und endlich einen Wahlkampf ohne Pleiten-Pech-und-Pannen-Skandale.