Der größte Missbrauchsskandal in der Türkei endete mit einem drakonischen Urteil.
Im Prozess um sexuellen Kindesmissbrauch ist ein Lehrer in der Türkei zu einer Gefängnisstrafe von 508 Jahren und drei Monaten verurteilt worden. Das Gericht in der zentralanatolischen Stadt Karaman sah es als erwiesen an, dass er zehn Buben missbraucht haben soll. Der Beschuldigte Muharrem B. Habe vor Gericht seine Unschuld beteuert, berichtete die türkische Tageszeitung "Hürriyet" am Donnerstag.
Rascher Schlusspunkt
"Ich habe es nicht getan", zitierte die Zeitung den 54-jährigen Lehrer. Die Polizei habe ihn unter Druck gesetzt. Und weiter: "Ich bin ein guter Lehrer. Ich habe die Kinder dazu gebracht, dass sie Bücher lesen", er sei wie ein Vater zu den Schutzbefohlenen gewesen. Das Gerichtsverfahren dauerte insgesamt nur einen Tag, mit dem Urteil wurde ein rascher juristischer Schlusspunkt unter den wohl größten Missbrauchsskandal des Landes gesetzt.
Öffentlich wurde der Skandal Mitte März. Die regierungskritische Tageszeitung "Birgün" berichtete über den sexuellen Missbrauch in Schülerwohnheimen der Ensar-Stfitung, die der AKP-Regierung nahestehen. Muharrem B. wurde vorgeworfen, vier Jahre lang rund 45 Burschen zwischen zwölf und vierzehn Jahren sexuell missbraucht zu haben.
Schwere Beweislage
Der Lehrer war am 13. März festgenommen worden, und kam in Untersuchungshaft. Die Beweislage gegen ihn wog schwer. In Protokollen, die von "Birgün" veröffentlicht wurden, sagten betroffene Kinder aus: "Jeder im Wohnheim wusste davon, was der Lehrer Muharrem machte. Aber wir konnten nicht mit unseren Familien darüber sprechen". Ein anderes Opfer gab zu Protokoll. "Ich habe mich gewehrt. Aber er ließ nicht nach. Ein paar Tage später hat er mich wieder weggebracht." Einer der Buben gab an, zwölfmal von dem Lehrer vergewaltigt worden zu sein. Die Kinder sagten, sie hätten Angst gehabt, sich an Vertrauenspersonen zu wenden.
Aufgedeckt wurde alles durch die Aussage eines Burschen, der Anfang des Jahres nicht mehr von Muharrem B. unterrichtet werden wollte. Er vertraute sich einem Psychologen an, der dann die Staatsanwaltschaft einschaltete. Der Pädagoge unterrichtete an einer staatlichen Volksschule und lehrte zugleich Religionsunterricht in Wohnheimen, deren Betreiber laut Medienberichten der Ensar-Stiftung nahestehen. Die Stiftung, die ebenfalls der Regierungspartei AKP nahestehen soll, distanzierte sich zunächst von dem Fall. Muharrem B. habe im Jahr 2013 lediglich für kurze Zeit in den Wohnheimen gearbeitet, zitierten türkische Medien einen Ensar-Mitarbeiter. Doch dann deckten Medien auf, dass der Beschuldigte bereits seit 2012 dort als Lehrkraft angestellt war.
Politikum
Der Fall wurde wegen der angeblichen Regierungsnähe, wegen des Vertuschungsversuches und des Themas zu einem Politikum. Denn sexueller Missbrauch, dann auch noch mutmaßlich ausgeübt von einem Religionslehrer, war in der Türkei bis dahin kaum ein Thema - bis zu dem Zeitpunkt, als die AKP-Familienministerin Sema Ramazanoglu sagte: "Nur weil es einmal zu einem solchen Vorfall kam, ist das kein Grund, eine Einrichtung zu beschmutzen, die gute Arbeit leistet."
Wegen dieser Aussage strengte die sozialdemokratische Oppositionspartei CHP ein Amtsenthebungsverfahren der Politikerin an - allerdings ohne Erfolg. Der Antrag wurde mit der AKP-Mehrheit im Parlament abgeschmettert. Weil CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu die AKP-Ministerin dafür kritisiert, dass diese "sich schützend vor jemanden" stelle und nicht die Kinder beschütze, konterte Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan: "Dieser Perverse aus Karaman ist im Gefängnis. Aber was machen wir mit diesen politisch Perversen?" Die Zeitung "Birgün", die den Skandal öffentlich machte, zeigte am Donnerstag auf ihrer Homepage Erdogan, wie er mit Mitgliedern der Enser-Stiftung im letzten Jahr beim Fastenbrechen während des Ramadans an einem Tisch sitzt.