"Hunderttausende Menschen würden getötet"

Selenskyj: ''Können nicht gesamtes Staatsgebiet zurückholen''

Teilen

''Ich glaube nicht, dass wir unser gesamtes Territorium mit militärischen Mitteln zurückgewinnen können'', sagte er in einem Interview, das sein Büro am Samstag in voller Länge ins Internet stellte.

Kiew (Kyjiw)/Moskau/London. Die Ukraine wird Präsident Wolodymyr Selenskyj zufolge das von Russland in den vergangenen Jahren eingenommene Staatsgebiet nicht komplett mit Gewalt zurückholen können. "Ich glaube nicht, dass wir unser gesamtes Territorium mit militärischen Mitteln zurückgewinnen können", sagte er in einem Interview, das sein Büro am Samstag in voller Länge ins Internet stellte. Bei einem solchen Vorgehen würden Hunderttausende Menschen getötet.

Das Interview wurde zuerst am Freitag im niederländischen Fernsehen gesendet. Russland hatte 2014 die Krim annektiert.

Allerdings nähert sich die Ukraine laut Selenskyj zufolge dem Punkt, an dem sie Russland technologisch und bezüglich der Angriffsmöglichkeiten überlegen ist. "Natürlich hängt viel von unseren Partnern ab und ihrer Bereitschaft, die Ukraine mit allem zu versorgen, was zum Schutz der Freiheit benötigt wird", sagte er in einer Videobotschaft. "Ich erwarte dazu gute Nachrichten in der kommenden Woche." Einzelheiten nannte Selenskyj nicht. Die Lage im Donbass sei kompliziert, sagte er weiter. Die Verteidiger hielten an mehreren Orten die Stellungen, darunter Sewerodonezk und Lysytschansk.

Mehrfachraketenwerfer mit hoher Reichweite gefordert

Mychajlo Podoljak, ein Berater Selenskyjs, forderte den Westen zur Lieferung fortschrittlicher Mehrfachraketenwerfer mit hoher Reichweite für den Kampf gegen Russland auf. "Wenn der Westen wirklich den Sieg der Ukraine will, ist es vielleicht Zeit, uns MLRS zu geben?", teilte Podoljak am Samstag auf Twitter mit. MLRS sind in den USA hergestellte Artilleriesysteme.

Die US-Regierung zieht einem Medienbericht zufolge in Erwägung, fortschrittliche Mehrfachraketenwerfer mit hoher Reichweite in die Ukraine zu schicken. Die Artilleriesysteme MLRS und HIMARS könnten Geschosse über bis zu 300 Kilometer abfeuern, hatte der Sender CNN am Donnerstag unter Berufung auf mehrere Beamte berichtet. Ein neues militärisches Hilfspaket könnte bereits in der kommenden Woche angekündigt werden.

Die strategisch wichtige Stadt Lyman in der Ostukraine wurde unterdessen nach russischen Angaben eingenommen. Sie sei vollständig unter Kontrolle russischer Truppen und den mit ihnen verbündeten Einheiten der Volksrepublik Donezk, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau mit. Am Freitag hatten bereits pro-russische Separatisten der selbst ernannten "Volksrepublik Donezk" die Eroberung Lymans verkündet. Das ukrainische Militär räumte indes nur einen Rückschlag im Kampf um Lyman ein.

Eisenbahnknoten Lyman

"Durch das gemeinsame Vorgehen von Einheiten der Donezker Volksrepublik und der russischen Streitkräfte wurde die Stadt Krasny Liman vollständig von ukrainischen Nationalisten befreit", sagte der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow, am Samstag. Krasny Liman ist die noch aus sowjetischer Zeit stammende Bezeichnung für Lyman. Lyman ist als Eisenbahnknoten und Straßenverbindung zu den Ballungsräumen Sewerodonezk - Lyssytschansk im Osten und Slowjansk - Kramatorsk im Südwesten strategisch wichtig.

Konaschenkow berichtete zudem von schweren Luft- und Raketenangriffen gegen die Städte Bachmut und Soledar im Gebiet Donezk. Getroffen worden seien unter anderem Gefechtsstände und Munitionsdepots. Die ukrainischen Verluste allein durch die Luftwaffe bezifferte der russische Armeesprecher auf 260 Soldaten.

Der Feind "versucht sich im Raum Lyman festzusetzen" und beschieße bereits Ortschaften außerhalb der Stadt, hatte es zuvor am Samstag im Lagebericht des ukrainischen Generalstabs geheißen. Am Vortag hatte der Generalstab noch von Kämpfen in Lyman berichtet und mitgeteilt, die russischen Truppen versuchten, die ukrainischen Verteidiger aus der Stadt zu drängen.

Weiteres Ziel russischer Angriffe

Sewerodonezk war ein weiteres Ziel russischer Angriffe in der Nacht. Die Vorstöße auf die Stadt sowie deren Vororte Toschkiwka und Oskolonowka seien aber abgewehrt worden, teilte der Generalstab mit. Im nahe gelegenen Bachmut hätten die Russen versucht, in den Rückraum der ukrainischen Kräfte zu kommen und die Versorgungswege abzuschneiden. Auch diese Bemühungen seien gescheitert.

Der Gouverneur von Luhansk, Serhij Hajdaj, sprach von einer schwierigen Lage in Sewerodonezk. Zwar habe man genug Mittel, um die Verteidigung zu halten, sagte er. Es könne aber sein, dass sich das ukrainische Militär aus taktischen Gründen zurückziehe. Russische Soldaten seien in der Stadt.

Seinen Schätzungen zufolge halten sich in der Region Luhansk insgesamt 10.000 russische Soldaten auf. Das seien die Einheiten, die dauerhaft dort seien, die versuchten, anzugreifen und in jede Richtung vorzurücken, in die sie das könnten, sagte der Gouverneur im ukrainischen Fernsehen laut Reuters. Unabhängig überprüfen kann die Nachrichtenagentur diese Angaben nicht.

Lyman als Knotenpunkt

Nach Einschätzung britischer Geheimdienste dürften sich die russischen Streitkräfte in der Ukraine auch in den kommenden Tagen auf die Kleinstadt Lyman als Knotenpunkt konzentrieren. Sollte es Moskau gelingen, die Stadt sowie die Region um die Großstadt Sewerodonezk unter seine Kontrolle zu bringen, werde der Kreml dies seinen Bürgern als wichtigen politischen Erfolg verkaufen, schreiben die Briten. Schon seit Beginn des Krieges veröffentlicht die britische Regierung in ungewöhnlich offener Art und Weise regelmäßig Geheimdienstinformationen zum Verlauf des Angriffskriegs. Moskau wirft London eine gezielte Desinformationskampagne vor.

Ein Fotograf der Nachrichtenagentur Reuters berichtete von schweren Schäden an einem Solarkraftwerk in der Region Charkiw. Offenbar sei die Anlage von einer Rakete getroffen worden. Der ukrainische Generalstab hatte mehrere russische Angriffe auf Gemeinden und Infrastruktur-Einrichtungen in der Region gemeldet.

Fehler im Artikel gefunden? Jetzt melden.