Klitschko: "Lage ist bedrohlich"

Luftalarm und Explosionen in Kiew

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Bürgermeister Klitschko meldet mehrere Detonationen in Kiew: "Die Lage ist jetzt - ohne Übertreibung - bedrohlich für Kiew. Die Nacht, kurz vor Tagesanbruch, wird sehr schwierig." 

In Kiew ist es laut Bürgermeister Vitali Klitschko nahe eines Kraftwerks zu fünf Detonationen gekommen. Diese hätten sich im Abstand von drei bis fünf Minuten im Norden der Stadt ereignet. Näheres sei bisher nicht bekannt. In der Hauptstadt stünden Brücken unter besondere Bewachung, sagt Klitschko. An strategischen Objekten würden Kontrollpunkte eingerichtet. "Die Lage ist jetzt - ohne Übertreibung - bedrohlich für Kiew. Die Nacht, kurz vor Tagesanbruch, wird sehr schwierig."

Es gebe Checkpoints nicht nur an den Stadtgrenzen. "Ich danke den Einwohnern der Stadt für ihre Bereitschaft, die Hauptstadt und das Land (...) zu verteidigen", sagte Klitschko.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj telefonierte am Abend einmal mehr mit US-Präsident Joe Biden. Er habe mit ihm über die Sanktionen gegen Moskau nach dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine und über Militärhilfe für Kiew gesprochen, twitterte Selenskyj. Es sei den USA dankbar für die Unterstützung.

Zuvor hatte es geheißen, die russische Armee sei bei ihrem Angriffskrieg auf die Ukraine bis in die Hauptstadt Kiew vorgedrungen. Das ukrainische Verteidigungsministerium meldete am Freitag russische "Saboteure" im nördlichen Stadtbezirk Obolon. Außenminister Dmytro Kuleba berichtete zudem von "schrecklichen russischen Raketenangriffen" auf die Millionenstadt. Seit Beginn der groß angelegten Invasion am Donnerstag wurden auf ukrainischer Seite nach offiziellen Angaben mehr als 130 Soldaten getötet.

Russland zu Verhandlungen bereit

Der Einmarsch löste weltweit Wut und Bestürzung aus. Russland erklärte sich am Freitag dazu bereit, eine Delegation zu möglichen Friedensverhandlungen mit der Ukraine in die belarussische Hauptstadt Minsk zu schicken, wie Kreml-Sprecher Dmitri Peskow sagte. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte dem russischen Staatschef Wladimir Putin zuvor zwei Mal ein Treffen angeboten.

Russland hatte nach monatelangem Truppenaufmarsch an den Grenzen zur Ukraine am Donnerstag eine Offensive gestartet. Während Panzer in die ehemalige Sowjetrepublik vorstießen, gab es Luftangriffe im ganzen Land. In Kiew flüchteten die Menschen zum Schutz auch in U-Bahnhöfe.

Nach Schätzungen der Vereinten Nationen sind in der Ukraine schon 100.000 Menschen auf der Flucht. Die UNO rechnet mit bis zu vier Millionen Flüchtlingen, sollte sich die Situation weiter verschlechtern. Schon jetzt seien Tausende in Nachbarländer wie Polen, Moldau, die Slowakei und auch Russland geströmt, hieß es vom Flüchtlingshilfswerk UNHCR.

Kriegsflüchtlinge fliehen in die Slowakei

Die Slowakei verzeichnete am ersten Tag nach dem russischen Angriff auf die Ukraine mehr als fünfmal so viele Grenzübertritte aus dem Nachbarland wie normalerweise. Von Mittwochnachmittag bis Donnerstagnachmittag seien 7.490 ukrainische Staatsbürger über die Grenze gekommen, teilte das Innenministerium in Bratislava am Freitag mit. Normalerweise seien es rund 1.400 an einem Tag. In Rumänien trafen nach Angaben von Ministerpräsident Nicolae Ciuca 19.000 ukrainische Flüchtlinge ein. Davon hätten 8000 ihren Weg nach Bulgarien und Ungarn fortgesetzt. Die Ukraine hat etwa 42 Millionen Einwohner.

Rund um den Globus gingen Demonstranten aus Solidarität auf die Straße. Gebäude und Monumente wurden in den blau-gelben Farben der ukrainischen Flagge beleuchtet. Weitere Kundgebungen sind für das Wochenende angekündigt. Auch in Russland gab es zahlreiche Proteste. Dabei wurden Bürgerrechtlern zufolge mehr als 1.700 Menschen festgenommen.

Sanktionen

Die EU und die USA belegten Russland mit verschärften Sanktionen, verzichteten aber noch auf härteste Strafmaßnahmen. Die EU setzt nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur auch Putin persönlich und Außenminister Sergej Lawrow auf ihre Sanktionsliste. Dies bedeutet, dass möglicherweise in der EU vorhandene Vermögenswerte der beiden eingefroren werden. Zudem dürfen sie nicht mehr in die EU einreisen. Strafmaßnahmen der EU gibt es auch mit Blick auf Energie, Finanzen und Transport. Zudem soll es Exportkontrollen für bestimmte Produkte sowie Einschränkungen bei der Visavergabe geben.

Der Kreml verteidigte seinen Militäreinsatz gegen weltweite Kritik und begrüßte zugleich einen Vorschlag Selenskyjs, über einen neutralen Status der Ukraine zu verhandeln. Außenminister Sergej Lawrow sagte der Agentur Interfax zufolge, der Zweck des Einsatzes sei eine "Entmilitarisierung und Entnazifizierung" und fügte an: "Niemand wird die Ukraine besetzen." Der Kreml behauptet seit Jahren, 2014 hätten aus dem Ausland gesteuerte "Faschisten" in Kiew einen Staatsstreich herbeigeführt.

Die genaue militärische Lage blieb undurchsichtig. Russland setzte eigenen Angaben zufolge 118 ukrainische Militärobjekte "außer Gefecht", darunter elf Militärflughäfen, und schoss fünf ukrainische Kampfflugzeuge und einem Hubschrauber ab. Die Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen.

Nach ukrainischen Angaben erlitten die russischen Truppen schwere Verluste. Präsident Selenskyj sagte, in der ukrainischen Armee seien am ersten Tag der Invasion 137 Soldaten getötet und 316 Soldaten verletzt worden. Das Verteidigungsministerium sprach von 30 zerstörten russischen Panzern, 130 Panzerfahrzeugen, 7 Flugzeugen und 6 Hubschraubern. Etwa 1.000 russische Soldaten seien getötet worden. Der britische Verteidigungsminister Ben Wallace sagte, die russischen Truppen hätten 450 Tote zu verzeichnen.

Selenskyj zeigt sich mit ranghohen Politikern

Selenskyj sagte in einer Videobotschaft, die Russen machten entgegen ihrer Zusicherung keinen Unterschied zwischen militärischen Zielen und Wohnhäusern. Zugleich hielt er dem Westen mangelnde Unterstützung vor: "Wir verteidigen unseren Staat allein. Die mächtigsten Kräfte der Welt schauen aus der Ferne zu." Am späten Donnerstagabend hatte er eine allgemeine Mobilmachung angeordnet, die die Einberufung von Wehrpflichtigen und Reservisten vorsieht.

Selenskyj mutmaßte, dass der Angriff dazu dienen soll, ihn zu stürzen. "Nach unseren Informationen hat mich der Feind zum Ziel Nr. 1 erklärt, meine Familie zum Ziel Nr. 2", sagte er.

Ukrainische Truppen rückten mit schwerer Militärtechnik unterdessen in Kiew ein, um die Hauptstadt zu verteidigen. "Die Stadt ist im Verteidigungsmodus", sagte Bürgermeister Vitali Klitschko der Agentur UNIAN zufolge. Schüsse und Explosionen in einigen Gegenden bedeuteten, dass russische "Saboteure" ausgeschaltet würden. In der Metropole heulten mehrfach die Sirenen, wie ein Korrespondent der Deutschen Presse-Agentur berichtete. Die U-Bahn-Stationen der Hauptstadt mit etwa 2,8 Millionen Einwohnern dienten als Schutzräume.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen betonte nach einem Krisengipfel in Brüssel: "Unsere Einigkeit ist unsere Stärke." Ganz einig waren sich die Staats- und Regierungschefs aber nicht: Mehrere forderten härtere Strafen, auch mit Blick auf das Banken-Kommunikationsnetzwerk SWIFT. Ein SWIFT-Ausschluss hätte zur Folge, dass russische Institute quasi vom globalen Finanzsystem ausgeschlossen würden.

Einige EU-Staaten, darunter Österreich und Deutschland, waren ursprünglich dagegen. Am Freitag erklärte sich Österreichs Regierung im Rahmen einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates aber bereit, einem SWIFT-Ausschluss Russlands zuzustimmen, wenn es eine Einigung dazu auf EU-Ebene gibt.
 

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