Der erste Countdown am 31. Dezember wird in Litauen bereits eine Stunde vor Mitternacht abgezählt. Dann wird der letzte Meiler des AKW Ignalina im Nordosten des Landes vom Netz genommen. Damit erfüllt das baltische Land eine der wesentlichen Verpflichtungen aus dem EU-Beitrittsabkommen.
Mit der geplanten Abschaltung tun sich die Litauer jedoch schwer. Technisch wäre es kein Problem, Ignalina noch bis Mitte 2012 zu betreiben, meint zumindest Kraftwerksdirektor Viktor Schewaldin. Aber die EU betrachtet den Reaktor vom Tschernobyl-Typ RBMK als gewaltiges Sicherheitsrisiko und machte die Stilllegung von Ignalina zu einer Bedingung für den EU-Beitritt. Block 1 wurde bereits 2004 abgeschaltet, als die baltischen Länder der EU beitraten. Wiederholte Versuche von Politikern aller Couleur, mit der EU-Kommission eine Betriebsverlängerung auszuhandeln, wurden von Brüssel stets abgeschmettert.
Höhere Strompreise und verlorene Jobs
Für die Litauer kommt die Abschaltung des Kraftwerks zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Die Rezession hat dem südlichsten der drei baltischen Länder schwer zugesetzt. Mit drastischen Sparmaßnahmen, darunter Gehalts- und Pensionskürzungen, versucht die Regierung die Krise in den Griff zu bekommen.
Nun müssen sich Unternehmen und Verbraucher zusätzlich auf deutlich höhere Strompreise einstellen. In der Kraftwerksstadt Visaginas hängen mehrere tausend Arbeitsplätze am Kraftwerk. Die Abschaltung wird die ohnehin hohe Arbeitslosenquote von über 16 % in der Region weiter in die Höhe treiben. Für die Dekommissionierung des AKW werden nur noch zwei Drittel der knapp 3.000 Kraftwerksarbeiter benötigt werden.
Ignalina hat bisher rund 70 % des litauischen Strombedarfs gedeckt und darüber hinaus den Nachbarn Lettland beliefert. Ohne Atomstrom steigt über Nacht die Abhängigkeit von Energieimporten, unter anderem aus Russland, der Ukraine und Weißrussland.
Das Land gilt als "Energieinsel" innerhalb der EU, weil es wegen seiner 50-jährigen Zugehörigkeit zur Sowjetunion ebenso wie Lettland nicht an die europäischen Netze angebunden ist. Die einzige Stromverbindung des Baltikums in den Westen ist ein Unterseekabel zwischen Estland und Finnland.
Stromkabel in den Westen warten auf Verlegung
Das soll sich seit langem ändern, getan hat sich aber wenig. Seit Jahren ist ein Unterseekabel nach Schweden sowie eine Landverbindung nach Polen geplant. Spätestens 2016 soll von Schweden Strom durch ein 440 km langes Unterseekabel nach Litauen fließen - ob das Kabel überhaupt gelegt wird sei unklar, erklärte jüngst der Vizevorsitzende der Nuklearen Energiekommission des Parlament, Rimantas Sinkevicius. Wann die Energiebrücke von Polen nach Litauen eingeweiht wird, steht ebenfalls in den Sternen.
Litauens unfreiwilliger Atomausstieg soll nur von kurzer Dauer sein. Ein neues AKW soll das Land von Importstrom wieder unabhängig machen. Derzeit wird ein strategischer Investor gesucht, der die Regie bei Planung und Bau eines Nachfolgekraftwerks in Ignalina übernimmt. Die Baukosten werden auf 3 bis 5 Mrd. Euro veranschlagt.
Beteiligen sollen sich auch Lettland, Estland und Polen. Wenn im kommenden Jahr mit den Bauarbeiten begonnen werde, könne das AKW 2018 ans Netz gehen, prophezeite jüngst Litauens Regierungschef Andrius Kubilius. Nachdem Polen, Litauen, Estland und Lettland jedoch jahrelang erfolglos über den Bau eines Nachfolgekraftwerks verhandelt haben, scheint sich Kubilius mit seiner Prognose weit aus dem Fenster zu lehnen. Lettlands Ministerpräsident Valdis Dombrovskis erklärte im Mai, er rechne nicht mit einer Fertigstellung vor 2025.
Der litauische Reaktor ist nur eines von mehreren Atomprojekten in der Region. Weißrussland plant mit russischer Unterstützung ein eigenes AKW und in der Exklave Kaliningrad zwischen Polen und Litauen will Russland bis 2016 einen Reaktor für den Stromexport errichten. Von allen drei Projekten räumt Ignalina-Kraftwerksdirektor Viktor Shewaldin dem litauischen Projekt die geringsten Umsetzungschancen ein.