Kanzler Kurz und Vize Strache warnten vor neuem Antisemitismus.
Die Bundesregierung hat in einem Festakt im Bundeskanzleramt der Befreiung vom Nationalsozialismus am 8. Mai 1945 gedacht. Festredner Arik Brauer plädierte dafür, die "zarte Pflanze" Demokratie zu pflegen. Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) sprach von einem Tag der Freude, Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ) erinnerte an Leid nach der Befreiung, beide warnten vor neuem Antisemitismus.
"Tag der Freude"
"Es ist ein Tag der Freude. Es ist aber auch ein Tag, an dem wir uns unserer Verantwortung stellen müssen", sagte Kurz. Österreich habe lange gebraucht, um sich mit seiner Vergangenheit kritisch auseinanderzusetzen. "Über 100.000 Österreicherinnen und Österreicher wurden vertrieben, nachdem man sie zuvor beraubt, gedemütigt und in unserem Land misshandelt hatte", sagte er. Nur ganz wenige seien zurückgeholt worden, "denn beraubt, gedemütigt und misshandelt waren sie in unserem Land nicht mehr willkommen."
Auch Strache betonte, dass man das Ende der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft als Fest der Freude feiere und zu Recht stolz auf Österreich sein könne. "Auf der anderen Seite hat es natürlich auch zwei Gesichter dieser Befreiung gegeben, weil es natürlich auch danach noch viel Leid gegeben hat", so der FPÖ-Obmann. Er sprach von materieller Not und Zerstörung, lobte die Trümmerfrauen und sah eine zehnjährige Besatzungszeit durch die Alliierten, in der Hunger und Angst tägliche Begleiter gewesen seien und es Plünderungen, Vergewaltigungen und Verschleppungen gegeben habe.
Verantwortung gegenüber Opfern
Strache ortete eine Verantwortung gegenüber den Opfern des Dritten Reichs, "dass so etwas nie wieder in unserer Geschichte Platz greifen kann und der Antisemitismus ein Ungeist ist, der nicht nur in unserer Bevölkerung da oder dort vorhanden ist, sondern leider Gottes auch in den letzten Jahren importiert wurde, und da haben wir alle Verantwortung zu tragen", so der FPÖ-Chef in Bezug auf Zuwanderer aus islamischen Ländern.
Ähnlich sah das Kurz, der hervorhob, dass Arik Brauer trotz seiner dramatischen Erfahrungen nach 1945 in Österreich geblieben sei, eine beeindruckende Karriere als Künstler gemacht habe und zu einem "kritischen Gewissen in unserem Land geworden ist, wenn es darum geht, den noch immer vorhandenen, aber auch den importierten Antisemitismus nicht nur anzusprechen, sondern auch zu bekämpfen".
Brauer für Offenheit und Demokratie
Arik Brauer, der Strache die Hand reichte, selbst berichtete von seiner Verzückung angesichts des von ihm erlebten Einmarschs der russischen Truppen. "Für mich war es selbstverständlich eine Befreiung, für mich war es selbstverständlich ein Sieg. Nicht so für die Bevölkerung." Zerstörte Wohnungen, gefallene Kinder und Ehemänner, vergewaltigte Töchter seien die Realität gewesen.
"Bin ich erlöst? Bin ich befreit? Natürlich nicht", sagte der Holocaust-Überlebende. Es sei den meisten Menschen schier unmöglich gewesen, die Situation so einzuschätzen. "Die Menschen hatten das Gefühl, wir haben den Krieg verloren, so, jetzt haben wir den Scherm auf."
"Hysterischer Jubel" beim Anschluss
Brauer erinnerte aber auch an den "hysterischen Jubel" 1938 in Österreich angesichts des "Anschlusses" an Nazideutschland und das "euphorische Gefühl, einer auserwählten Rasse anzugehören, die das Recht hat und vielleicht auch die Pflicht hat, alle anderen zu besiegen, zu unterdrücken, zu versklaven und wenn's passt auch auszurotten".
Er glaube nicht an Kollektivschuld, so Brauer, doch irgendjemand müsse ja schuldig sein: "Die Macher, die Konstrukteure dieser Tragödie, die haben sich natürlich schuldig gemacht", und zwar vor den Völkern Europas, den massakrierten Minderheiten, hunderttausenden abgeschlachteten Kindern, auch der eigenen Bevölkerung und "vor der menschlichen Zivilisation, der sie einen Einbruch verursacht haben von noch nie da gewesener Tragik".
Es musste eine neue Generation heranwachsen, so Brauer: "Und ich bin sicher, dass heute in Österreich die überwältigende Mehrheit der Menschen durchaus imstande ist, die Situation und die Wahrheit von der Zeit des Zweiten Weltkriegs richtig einzuschätzen". Gesiegt habe damals "das allgemeine menschliche Bedürfnis, in Frieden und möglichst großer Freiheit zu leben".
Sieg der Demokratie
Gewonnen habe letzten Endes auch die Demokratie über die Diktatur. "Die Demokratie ist eine zarte Pflanze, das wissen wir, und man muss sie ununterbrochen pflegen und gießen." Unterschiedliche Interessen, Denkweisen und Gefühle der Bevölkerung machten all das sehr kompliziert, gehe vielen auf die Nerven und lasse teils auch den Wunsch nach einer starken Hand laut werden. Jedoch: "Diktatur kann man nicht ein bisserl kriegen", und das Leben unter ihr sei fürchterlich, denn "denn da kommt das Böse und das Widerwärtige, das in uns lebt, an die Oberfläche".
Brauer sprach von einem glücklichen Europa, in dem ein Land - wenn auch oft aus egoistischen Interessen - dem anderen auf die Finger schaue, damit es nur ja seine Demokratie pflege. "Und glücklich die Bevölkerung, die eine Regierung hat, wo Menschen sind, hoffentlich, die imstande sind, mit Geduld und mit Freude die Kritik und Kontrolle der Öffentlichkeit zu ertragen", sagte er unter viel Applaus: "Je mehr davon, umso besser."