Russland liegt mit der Anzahl an Infektionen weltweit an fünfter Stelle, weist aber erstaunlich wenige Todesfälle auf. Der Grund ist die zweifelhafte Zählweise.
Während die Zahl bestätigter Corona-Fälle in Russland einen neuen Höchststand erreicht, bleibt die offizielle Zahl der Todesopfer im Vergleich zu anderen europäischen Ländern erstaunlich niedrig. Dafür machen russische Regierungsvertreter die hohe Testrate verantwortlich. Kritiker verweisen hingegen auf fragwürdige Feststellungen von Todesursachen bei den Opfern.
"Wenn jemand an einem Herzinfarkt stirbt, aber auch Covid-19 diagnostiziert wurde, dann ist die offizielle Todesursache der Herzinfarkt", sagt Sergej Timonin vom Internationalen Laboratorium für Bevölkerung und Gesundheit an der Moskauer Higher School of Economics (HSE). "Mit anderen Worten: Nicht alle Todesfälle von Personen mit Corona werden als Todesfälle durch Corona gelistet."
Russland auf Platz 5 mit Infizierten
Am Donnerstag lag Russland mit knapp 188.000 bestätigten Infektionen weltweit an fünfter Stelle bei der Pandemie. Gleichzeitig meldete das Land nur 1.723 Todesfälle - eine Quote von 0,9 Prozent, die weit niedriger ist als in den zehn am meisten betroffenen Ländern. Zum Vergleich: In Deutschland liegt die Todesrate bei 4,2 Prozent.
Viele Russen zweifeln die Zahlen deshalb auch an. Daraufhin betonten das Gesundheitsministerium und die zuständige Aufsichtsbehörde Rospotrebnadsor, die Zahlen spiegelten die schnelle Reaktion des Landes auf die Pandemie wider. In einer Erklärung hieß es, Russland stehe mit mehr als 4,46 Millionen Tests weltweit an zweiter Stelle hinter den USA.
So könnten "Patienten mit leichtem Verlauf als auch solche ohne Symptome identifiziert und schnell isoliert werden", was die Ausbreitung des Virus in der Öffentlichkeit und bei bestimmten Risikogruppen deutlich verringert habe. Obwohl es Zweifel an ihrer Zuverlässigkeit gibt, sind Virustests in Moskau bei privaten Laborunternehmen und Kliniken weit verbreitet. Seit Ende April bietet der Internetgigant Jandex auch kostenlose Tests für zu Hause an.
Ein Vertreter der Aufsichtsbehörde teilte anonym mit, die niedrige Infektionsrate der über 65-Jährigen zeige den Erfolg der russischen Strategie. Vor allem in Moskau wurde schon Mitte März angeordnet, dass Senioren über 65 zu Hause bleiben sollten.
"Russland hat sein Bestes gegeben, den Höhepunkt der Pandemie hinauszuzögern", betont auch der Infektiologe und Regierungsberater Jewgeni Timakow. "Wir haben unsere Grenzen geschlossen und sofort mit der Beobachtung der Infizierten begonnen." Damit habe man ein paar Wochen gewonnen, "um Risikopatienten zu isolieren und Krankenhausbetten zu organisieren". Die endgültige Sterberate werde "ein Drittel der europäischen" betragen.
Diagnose Lungenentzündung
Doch die fehlende Transparenz bei den Todesursachen lässt Zweifel aufkommen. Örtliche Medien berichteten über Fälle, bei denen als Todesursache Lungenentzündung angegeben wurde, obwohl der Verstorbene positiv auf Corona getestet worden war.
Timonin von der Moskauer HSE erklärt, in Russland werde die Todesursache erst nach der Autopsie bestimmt. "Erst Ende Mai, wenn die April-Statistik herauskommt, werden wir die wahre Todeszahl von Covid-19 in Russland kennen."