Mussorgskis unvollendete Oper ertönt in Salzburg als Mischung aus Rekonstruktion, Neuschöpfung und Klangexperiment – Nadezhda Karyazina rechtfertig damit ihren jüngst erhaltenen Herbert-von-Karajan-Preis.
Wie bringt man eine unvollständige Oper auf die Bühne? Eine Frage, die sich bei Mussorgskis nur fragmentarisch vorhandener "Chowanschtschina" stellt – und die die Osterfestspiele Salzburg auch zum Finale am Montag im Großen Festspielhaus mit einer Mischung aus Rekonstruktion, Interpretation und Neuschöpfung beantworten, visualisiert in gewaltig anmutenden und wirkenden Bildern von Regisseur Simon McBurney.
Mussorgski hatte sich zu Tode getrunken, ehe er sein Werk über einen der düstersten Momente der russischen Geschichte, den Moskauer Strelizen-Aufstand 1682, vollenden konnte. Viele Kollegen versuchten sich an einer Vervollständigung der Fragmente und Skizzen. Die bekannteste Aufführungsfassung stammt von Dmitri Schostakowitsch, dessen Orchestrierung heute meistens zu hören ist – sofern man das selten gespielte Werk überhaupt einmal auf einem Spielplan findet.
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Die Osterfestspiele wollten dem Original so nah wie möglich kommen und jede erhaltene Note von Mussorgski bewahren. So wurde der Bruder des Regisseurs, der Komponist und Russland-Spezialist Gerard McBurney, mit der Arbeit an den vorhandenen Skizzen betraut. Er wählte einen bemerkenswerten Kunstgriff für den Umgang mit den Mussorgski-Lücken: Übergänge, etwa zum von Strawinsky komponierten Schluss, ließ er vom finnischen Klangkünstler Tuomas Norvio mit elektronisch generierten Klängen füllen. Während Mussorgskis/Schostakowitschs Musik in ihrer sinfonischen Breite oft betörend schön und harmonisch klingt, setzten Norvios Klangflächen einen Kontrapunkt zur Härte der Handlung. Sie blieben punktuell, nie vordergründig, und bildeten dennoch eine schlüssige Verbindung zwischen Fragment und Erzählung.
Genau diesen Umgang pflegte auch Regisseur Simon McBurney mit seiner Inszenierung. Der Stoff von "Chowanschtschina" – Aufstand und Krieg in Russland – drängte sich mit seiner zeitlosen Thematik geradezu auf, aktuell übersetzt zu werden. Doch McBurney begegnete dem politischen Stoff mit einer bemerkenswerten Zurückhaltung, die ganz ohne Putin-Bilder und Kosakenmützen auskam. Er bog den Inhalt nicht zur aktuellen Russland-Reflexion, sondern zum zeitlosen Macht- und Glaubensdrama – und machte ihn gerade dadurch so eindrücklich, weil er um die Wirkungsmacht der Andeutung wusste.
Anstatt Moskau am Schluss in lodernden Flammen untergehen zu lassen, ließ er einfach einen Haufen Asche regnen. Die Bühne dazu (Rebecca Ringst) bestand aus verschiebbaren, kahlen Wänden, die sich zu bedrohlichen Räumen fügten, zu Projektionsflächen für Details wurden und die Figuren spürbar ins Zentrum rückten. Einfache Mittel mit großer Wirkung. Besonders eindrucksvoll darauf zu sehen: Nadezhda Karyazina als Marfa, die ihre gelegentlichen Kamerablicke präzise und sparsam für zusätzliche Tiefe nutzte.
Karyazina, jüngst mit dem 50.000 Euro dotierten Herbert-von-Karajan-Preis ausgezeichnet, war auch musikalisch das stärkste Gesamtpaket des Abends. Ihr tiefdunkler, warmtönender Mezzo balancierte sicher zwischen Zorn, Überheblichkeit und einer fast zarten Verletzlichkeit. Sie spielt eine Marfa, die sich ihrer (auch magischen) Kräfte sehr bewusst ist und doch menschlich bleibt. An ihrer Seite überzeugte Vitalij Kowaljow als Fürst Iwan Chowanskij mit imposantem Bass und souveräner Bühnenpräsenz. Auch Daniel Okulitch als Schaklowityi und Ain Anger als Dossifej präsentierten sich mit stimmlicher Durchsetzungskraft und darstellerischer Tiefe.
Dirigent Esa-Pekka Salonen trat musikalisch nicht in Konkurrenz zu den ausdrucksstarken Darstellungen und der Inszenierung. Er fügte sich klug und bewusst ein, dirigierte mit sinfonischer Weite, kostete die Melodien voll und ganz aus, ohne ins Sentimentale abzugleiten. Das Finnish Radio Symphony Orchestra musizierte unter seiner Leitung präzise, geschmeidig und mit eindrucksvollem Farbenreichtum. Auch der Chor, bestehend aus dem Bachchor Salzburg und dem Slowakischen Philharmonischen Chor, überzeugte unter der Leitung von Michael Schneider respektive Jan Rozehnal mit starker Präsenz und Klangkultur.
Am Ende überzeugte die starke musikalische Darbietung von Ensemble, Dirigent und Orchester das Publikum am meisten und versetzte es in ausgelassenen Jubel. Das Regieteam erhielt bei der Premiere weder Bravos noch Buhs – dafür anerkennenden, lang anhaltenden Applaus.