Werner Schneyers neues Buch "Krebs" - Das 5. Kapitel
Sie sagt ganz klar, sie will den Frühling, den Sommer, den Frühherbst am See
nicht durch regelmäßige medizinische Aktionen geschändet wissen. Das ist ihr
Stilgefühl, ihre Ästhetik. Dass sie nicht akzeptiert, kahlköpfig gemacht zu
werden, fließt wie nebenbei ein. Da meint der Professor nun, es gäbe auch
die zweite Möglichkeit einer weicheren Chemotherapie, mit weniger
Nebenwirkungen, zum Beispiel mit nur geringem Haarschwund, aber durchaus
auch wirkungsvoll. Als eine dritte Möglichkeit erwähnt er Bestrahlen.
Ich
habe den Eindruck, hier äußert sich ein medizinisches Prinzip, das offenbar
verbietet, nichts zu tun. Das geht mir aber nicht ins Hirn, wenn sich
therapeutische Vorschläge keine Sekunde lang mit der Chance auf Genesung
oder Erleichterung verbinden. Wir ergänzen die Optionen um die vierte,
nämlich nichts zu machen, was so viel heißt, Schmerzen, wenn sie kommen, zu
dämpfen.
Sie behält sich eine Frist bis Dienstag vor. Bis dahin
wird sie sich entscheiden. Der Professor Lasker gibt ihr seine private
Telefonnummer. Er ist jederzeit für sie zu erreichen. (...)
Sie hat
über den Tag Krankenhausurlaub. Ich gehe in ihr bevorzugtes
Delikatessengeschäft in der Innenstadt und kaufe sinnlos viel ein. Aber
Vielerlei. Etwa alle möglichen Salate. Wir müssen ausprobieren können, was
ihr schmeckt. Vielleicht der besonders gute, von Hand geschnittene
Beinschinken. Den werden wir uns auch für Ostern vorbestellen.
Sie
kommt mit dem Taxi. Sie ergreift sofort von der Küche Besitz. Wir decken den
Tisch. Es ist alles, wie es immer war. Bis auf ihre erschreckende Magerkeit.
Es schmeckt ihr ein bisschen. Vor allem der Eiersalat. Wein bringt sie
keinen Schluck hinunter. Sie versucht es, er widert sie an.
Sie sagt,
wir müssen jetzt eine kleine Wohnung kaufen. Denn die wirst du nicht
bewältigen. Sie disponiert über den Tod hinaus. Das hat mir auch unser Sohn
gesagt: Du wirst sehen, sie wird alles in Ordnung bringen wollen. (...)
Das
Abspielen von CDs ist gefährlich. Da kommt es zu schrecklichen Stellen. Da
singt der jetzt so populäre junge Tenor die Blumenarie aus Carmen. Er singt
sie französisch. Ich kenne aber den deutschen Text. Und ewig dir gehör ich
an. Scheibenwechsel. Ich spiele meine geliebten Four Freshmen. Was singen
sie sehr bald? What are you doing for the Rest of Your Life?
Scheibenwechsel. (...)
Der Professor ist für Chemo. Er definiert weder
eine Chance auf besiegen noch das mögliche Maß der Lebensverlängerung. Er
sagt nur, es könnte einem einmal Leid tun, nicht alles versucht zu haben. Er
sei einverstanden, nicht die ganz scharfe Therapie zu machen, sondern die,
bei der man Haare behält.
Sie schaut mich an: Er hat mich
irritiert. (...)
Die Nacht vor der dritten Anwendung der ersten
Chemotherapie ist die Hölle. Irgendeinmal frage ich sie, ob ihr
schlecht ist. Sie reagiert aggressiv. Sie findet die Frage berechtigterweise
zu blöd. Ich verfüge, dass ich mit ihr zur Chemo fahre. Im Taxi hat sie
Angst. Sie klammert sich an mich. Sie hat Angst vor dem, ja, Anscheißen.
Erwartungsgemäß
sagt der anwesende Oberarzt, wir werden Sie dabehalten. Zu mir sagt er: Wir
werden alles tun, was in diesem Zustand nötig ist. Mich trifft sein geradezu
kollegialer Blick. Er meint also Morphium, denke ich. Gott sei Dank.