Bißmeier und Krüger an der Seite von Brandauer als Herz der Aufführung.
Ja, es hätte durchaus kürzer sein können. Ja, eine Aufführung, bei der wehende Fahnen und klirrende Schwerter eine große Rolle spielen und keine heutigen Bilder für alte Geschichten gesucht werden, wirkt ein wenig antiquiert. Aber dennoch galt der lange Applaus, der gestern im Burgtheater "König Lear" gespendet wurde, wohl nicht nur den großen, alten Männern Peter Stein und Klaus Maria Brandauer.
Drei Dinge sind es, die einen - bei allen Einwänden - für die erste Burgtheater-Inszenierung des 76-jährigen Meisterregisseurs, der das deutschsprachige Theater der Nachkriegszeit geprägt hat wie kaum ein anderer, einnehmen können. Anders als viele junge Kollegen versucht er die Vielschichtigkeit und Unergründlichkeit des Shakespeare-Dramas zu bewahren und sich nicht nur auf ein, zwei Aspekte zu konzentrieren. Er versucht nicht durch oberflächliche Schau- und Show-Effekte mangelnde Tiefe zu kaschieren. Und er schafft es, ein großes Ensemble zu intensiver Auseinandersetzung mit seinen Figuren zu motivieren. Das ist mehr, als einem sonst geboten wird.
Peter Steins Sicht auf das große, pessimistische Shakespeare-Drama benutzt keine Aufheller. Was unter und hinter einem von Ferdinand Wögerbauer geschaffenen hohen, steinernen Bühnenportal auf weitgehend leerer Bühne vor sich geht, ist düster und wird auch nur spärlich beleuchtet. Die wilden Horden des greisen Königs sind mit Fellen angetan, eine Bande gefährlicher Waldschrate, die ihre erlegte Beute mit sich schleppt. Doch nur äußerlich geben sich Goneril und ihr Gefolge (in dunklem Grün) sowie Schwester Regan und ihr Hofstaat (in Weinrot) kultivierter. In Wahrheit schält die Entscheidung des Königs, seine Macht bereits zu Lebzeiten abzugeben und sein Reich unter seinen drei Töchtern aufzuteilen, langsam den Kern der Menschen heraus - und der ist bei vielen verdorben und verfault.
Stein gibt sich und dem großen, hochkarätigen Ensemble viel Zeit für Entwicklungen und Wandlungen. Das ist während der viereinviertel Stunden der Aufführung (eine Pause) nicht immer, aber doch über weite Strecken spannend. Klaus Maria Brandauer, das 70-jährige Ehrenmitglied des Burgtheaters, das sich in seiner über 40-jährigen Zugehörigkeit auf der Bühne seines Stammhauses zunehmend rar machte, wandelt sich vom starrköpfigen, aufbrausenden, greisen König zum weisen Entrückten. An der Seite seines Narren (Michael Maertens mit vielen Facetten) erweist sich "Onkelchen Lear" zunehmend als naher Verwandter, ja fast als dessen Zwilling. Seltsam bleibt, warum Shakespeare mit Fortdauer der Tragödie sein Interesse an dieser Gegenfigur verliert.
Doch das Herz der Inszenierung, das rast und pocht und schmerzt, schlägt anderswo: In Joachim Bißmeier, der als aufrechter Graf von Gloster, dem von der rasenden Regan (Dorothee Hartinger) und ihrem Gemahl (Martin Reinke) die Augen ausgerissen werden, und der die bestürzendste und stärkste Leistung seit langem bietet. Und in Fabian Krüger, der als Glosters Sohn Edgar einen unglaublichen Bogen vom durch den Stiefbruder Edmund (Michael Rotschopf) getäuschten Naivling über den scheinbar dem Wahnsinn verfallenen Erdgeist bis zum rächenden Ritter in allen Facetten mit höchster Intensität spielt und die Aufmerksamkeit auf sich zieht.
Auch Corinna Kirchhoff als Goneril und Dorothee Hartinger gelingt es nach eher verhaltenem Beginn, den zunehmenden Konflikt der beiden Schwestern, die im Kampf um Edmund zu Furien werden, sehenswert zu gestalten. Wie stets haben es die "Guten" (wie Pauline Knof als Cordelia, Dietmar König als Albany, Branko Samarovski als Kent) deutlich schwerer, Kontur zu gewinnen als jene, die undurchschaubare Ränke schmieden und die Schlechtigkeit des Menschen offenbaren.
So intensiv manche Momente und Figuren gelingen, so hat die Aufführung auch ihre Durchhänger. Manche Lacher im Publikum bei Mord- und Kampfszenen deuten ebenso daraufhin, dass sich nicht jedermann auf den gewählten, mitunter verstaubt anmutenden theatralen Zugang zur Verhandlung der Conditio humana einlassen wollte, wie der einzige Szenenapplaus des Abends für den Satz: "Das ist die Seuche dieser Zeit: Verrückte führen Blinde."
Nein, dieser "König Lear" wurde kein Triumph. Nein, Standing Ovations gab es keine. Ein wenig wirkt diese große, staatstragende Klassiker-Inszenierung auch wie ein Abgesang auf eine abtretende Theaterepoche. Um das Erbe der Steins und Brandauers wird längst gestritten.