Sea-Watch-Kapitänin ging scharf mit Migrationspolitik ins Gericht und heimst Attacken von Rechtspopulisten ein - Anhörung zur Seenotrettung am sechsten Jahrestag der Lampedusa-Tragödie.
Brüssel. Für eine schonungslose Abrechnung mit der Migrationspolitik hat Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete stehende Ovationen im Europaparlament in Brüssel erhalten. "Ich wurde empfangen wie ein Schiff, das die Pest nach Europa bringt", sagte Rackete am Donnerstag im Innenausschuss des Parlaments. "Es war schwer, eine EU-Bürgerin zu sein in diesen Tagen. Ich habe mich geschämt."
Die deutsche Aktivistin schilderte in eindringlichen Worten ihre Erfahrungen als Seenotretterin, etwa als ihr Schiff auf ein Wrack traf, um das herum Leichen schwammen. Einige hätten sich in den Armen gehalten als sie starben, "die Körper untrennbar verbunden". Sie habe auch drei Kinder gesehen, "die die Leiche eines Babys im Arm hielten. Dann sangen einige für dieses Baby und schaukelten es, als wäre es noch am Leben".
Keine dieser Erfahrungen sei aber so schlimm gewesen wie die "Frustration", 70 Tage lang mit geretteten Migranten auf der Sea-Watch im Mittelmeer unterwegs zu sein "und den Menschen zu erklären, dass Europa sie nicht wollte, Europa, das Symbol der Menschenrechte". Rackete verteidigte in diesem Zusammenhang neuerlich ihre Entscheidung, den Hafen von Lampedusa anzusteuern. "Das war keine Provokation", betonte sie. "Das hätte ich viel früher tun sollen", argumentierte Rackete mit dem Schutz von Menschenleben.
Rackete: In Lybien herrscht Bürgerkrieg
Bei ihrer Landung gegen den Willen der italienischen Regierung in Lampedusa habe sie "viel ungewollte Aufmerksamkeit" bekommen. "Aber wo waren sie, als wir nach Hilfe gerufen haben, über alle möglichen Kanäle, wo waren sie, als wir nach einem sicheren Ort gefragt haben? Man hat mir Tripolis genannt, die Hauptstadt eines Landes, in dem Bürgerkrieg herrscht", kritisierte sie. "Wenn wir wirklich besorgt sind über Folter in Libyen, muss Europa die Kooperation mit der libyschen Küstenwache einstellen", forderte Rackete unter dem Applaus der Abgeordneten.
Die Anhörung fand am sechsten Jahrestag der Flüchtlingstragödie von Lampedusa statt, bei der 366 Menschen ums Leben gekommen waren. Während die Abgeordneten der Tragödie mit einer Schweigeminute gedachten, betonte Rackete, dass sich seitdem nicht viel geändert habe. "Sechs Jahre sind vergangen, und statt dass ähnliche Tragödien vermieden werden, hat die EU ihre Verantwortung externalisiert und an Libyen delegiert, wobei Völkerrecht gebrochen wird". Es gebe aber "Hoffnung", nämlich die Aktionen der zivilgesellschaftlichen Organisationen.
Rackete forderte einen radikalen Systemwandel im Umgang mit Migration. Eine Reform von Dublin sei "längst überfällig", es brauche humanitäre Korridore und sichere und legale Routen nach Europa. "Eine Anlandung von geretteten Personen muss sich an das Recht halten und darf nicht Ad-hoc-Verhandlungen anheim gestellt werden."
In der Anhörung machten Vertreter von Frontex, EU-Kommission, EU-Grundrechteagentur sowie der italienische Küstenwache-Kapitän Andrea Tassara klar, dass die Rettung von Flüchtlingen im Mittelmeer nicht kriminalisiert werden dürfe. In der Debatte zeigten sich aber Differenzen. So pochten konservative Abgeordnete darauf, den Schleppern das Handwerk zu legen. Frontex-Direktor Fabrice Leggeri wich mehrmals der Frage aus, ob er Libyen als sicheren Drittstaat ansieht.
Der Direktor für Migration der EU-Kommission, Michael Shotter, wies darauf hin, das seit Juni im Rahmen von Ad-hoc-Aktionen bereits über 1.000 Menschen an Land gehen konnten und an andere Mitgliedsstaaten sowie Norwegen verteilt wurden. "Wir brauchen jetzt einen zuverlässigen und ständigen Such- und Rettungseinsatz anstelle von Ad-hoc-Aktionen", sagte Shotter. Daher sei es "wichtig", dass sich nach der Einigung von Malta weitere Mitgliedsstaaten daran beteiligen und "Solidarität" zeigen.