Kremlchef wollte zum 100. Jahrestag der Gründung der Sowjetunion zum Jahreswechsel eine Art Wiedergeburt des Imperiums, nun verliert Moskau einst treue Vasallen.
Kremlchef Wladimir Putin kämpft nach zahlreichen Niederlagen in seinem Krieg in der Ukraine auch um seinen Ruf als starker Anführer weit über Russland hinaus. Gern hätte der russische Präsident den Ultranationalisten, die von einer neuen Großmacht träumen, einen Sieg beschert - pünktlich zum 30. Dezember 1922, als vor 100 Jahren die Sowjetunion als erstes kommunistisches Imperium gegründet wurde. Aber eine Rückkehr Kiews unter die Vorherrschaft Moskau ist nicht in Sicht.
Stattdessen muss Putin zusehen, wie sich auch die letzten der einst 15 Staaten der Sowjetunion von Russland abwenden – oder zumindest seine Rolle infrage stellen.
Der 70 Jahre alte Kriegsherr, der den Zerfall der Supermacht UdSSR vor gut 30 Jahren einmal als größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnete, sieht sich im Kampf gegen den liberalen Westen – und beschuldigt diesen, auch durch die Unterstützung der Ukraine das heutige Russland zerschlagen zu wollen. "Im Verlauf von Jahrzehnten wurde in den westlichen Ländern stets die Idee von einem Zerfall der Sowjetunion, des historischen Russlands und Russlands als solches kultiviert", sagte Putin im September vor Journalisten.
Wirtschaftliche Folgen
Der Kremlchef sieht, dass sein Krieg nicht nur die Ukraine zerstört, sondern auch der russischen Wirtschaft zusetzt und den sozialen Frieden gefährdet. Zunehmend schaden die Niederlagen auch Moskaus Ruf als Ordnungsmacht und Stabilitätsgarant auf dem Gebiet der früheren Sowjetrepubliken in Zentralasien und im Südkaukasus.
Die Gefahr eines Zerfalls des Vielvölkerstaates Russland selbst gilt derzeit zwar als gering. Auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker pocht der Kreml stets anderswo, nicht aber im eigenen Land. Experten sehen in dem zutiefst autoritären System eines Überwachungsstaates kaum Chancen, dass sich Proteste ethnischer Minderheiten gegen den Krieg oder etwa antirussische Stimmungen in Teilrepubliken wie Tatarstan oder Dagestan zu Separatistenbewegungen ausweiten.
Doch in den Ex-Sowjetrepubliken, wo der russische Präsident lange als starker Anführer gefürchtet wurde, weht zunehmend ein kühlerer Wind. Der tadschikische Präsident Emomali Rachmon ging Putin im Oktober auf offener Bühne an, dass Moskau kleinere Länder wie schon zu sowjetischen Zeiten übergehe. Bei einem anderen Gipfel in Usbekistan ließen Staatenlenker Putin bei bilateralen Treffen warten - dabei kommt der Kremlchef als Machtdemonstration sonst selbst oft zu spät.
Entsetzen über Krieg
Das Entsetzen über Putins Krieg ist bei vielen der Partner groß – wo es doch insgesamt auf dem Gebiet der früheren Sowjetrepublik gleich mehrere ungelöste Konflikte gibt, die sich jederzeit zu Waffengängen auswachsen können. Lösungen bietet Moskau keine.
Zwar sieht sich Putin etwa weiter als Vermittler zwischen den verfeindeten Ex-Sowjetrepubliken Aserbaidschan und Armenien. Doch auch nach der Entsendung von 2.000 russischen "Friedenssoldaten" kommt das zwischen beiden Ländern umkämpfte Gebiet Berg-Karabach nicht zur Ruhe. Armenien kritisierte fehlendes Engagement Russlands, das beide Kriegsparteien mit Waffen ausrüstet. Demonstrativ empfing Regierungschef Nikol Paschinjan in Eriwan sogar eine US-Delegation, die Armenien Hilfe anbot. Ein Affront für Russland, das stets Militärbasen der USA oder anderer NATO-Mitglieder in seinem Interessenbereich verhindern wollte.
Paschinjan fordert schon lange, dass die von Russland dominierte Organisation des Vertrags über die kollektive Sicherheit (OVKS) als postsowjetisches Militärbündnis auch Armenien mit Soldaten hilft. OVKS-Soldaten halfen in Kasachstan nach blutigen Unruhen Präsident Kassym-Schomart Tokajew zum Verbleib an der Macht. Aber das war im Januar - vor dem Beginn des Krieges, der Russlands Kräfte nun bindet.
Kasachstans gerade im Amt bestätigter Staatschef Tokajew erweist sich heute zwar dankbar gegenüber Moskau. Aber zum Krieg in der Ukraine findet er distanzierende Worte. Der Einmarsch dort löste auch in Kasachstan Ängste aus, Russland könnte sich die Ex-Sowjetrepublik ganz oder in Teilen ebenfalls mit Gewalt zurückholen wollen. So gesehen dürften die militärischen Niederlagen Russlands in der Ukraine die Nachbarn eher beruhigen - schaden dem Image Moskaus aber zusätzlich.
"Quasi-Imperium"
Der Krieg in der Ukraine sei nur ein Beispiel dafür, wie Russland versuche, sein "Quasi-Imperium" zu erhalten, sagt der russische Analyst Igor Grezki. "Der politische Einfluss Russlands wird aber überbewertet."
Kaum Bewegung gibt es auch bei den Integrationsprojekten, die Teile der Sowjetunion auffangen sollten. Experten sehen keine Verbündete mehr für Russland – mit Ausnahme von Belarus' Machthaber Alexander Lukaschenko, der Putin wirtschaftlich, finanziell und politisch auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist.
Lukaschenko stellt russischen Truppen Militärstützpunkte für Angriffe auf die Ukraine zur Verfügung, wehrt sich aber gegen den Vorwurf, Kriegspartei zu sein. Er will vor allem verhindern, dass Russland Belarus einfach schluckt. Die Annexion ukrainischer Gebiete durch Russland habe bei vielen postsowjetischen Anführern Unbehagen ausgelöst und dem Zusammenhalt in der Region einen schweren Schlag versetzt, sagt der belarussische Politologe Waleri Karbalewitsch.
Zwar habe Russland auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Republiken weiter wirtschaftlich etwa mit günstigen Energiepreisen unterstützt, um die Beziehungen zu erhalten, meint Karbalewitsch. Allerdings seien viele nach Putins Äußerungen über einen "ungerechten" Zerfall der Sowjetunion alarmiert. Er erwartet deshalb, dass Russlands Einfluss im postsowjetischen Raum weiter sinkt.
Der Gewinner könnte ausgerechnet der große Nachbar sein. Wie andere Experten sieht Karbalewitsch bereits deutliche Signale der zentralasiatischen Republiken, sich stärker nach China zu orientieren. Die Großmacht könnte die Rolle des Garanten für Sicherheit und territoriale Unversehrtheit in der Region übernehmen.