Die "Neue Geippe"-Pandemie umrundet die Welt. Unterschätzen sollte sie niemand in Gesundheitspolitik, Spitals- und Gesundheitswesen insgesamt. "In den meisten Fällen verläuft die A(H1N1)-Influenza mild. Doch ein kleiner Teil der Patienten erkrankt 'spektakulär' schwer. Bei uns kam die Kapazität an Intensivbetten dadurch stark unter Druck." Diese Warnung sprach der kanadische Experte Anand Kumar (Universität von Manitoba) bei einer Pressekonferenz des Pharmakonzerns Roche in Basel aus. Möglichst schnelle Versorgung mit einem Impfstoff und möglichst aggressive Behandlung der Erkrankung wären angezeigt.
Roche stellt seit dem Jahr 2001 eines der beiden ursächlich gegen die Influenza wirkenden antiviralen Medikamente (Oseltamivir/"Tamiflu") her. In Basel sollten am Montag stand und Zukunftsaussichten rund um die A(H1N1)-Pandemie präsentiert werden. Kumar wurde als unabhängiger Experte eingeladen. Er hat Ende April den Ausbruch der Erkrankung in Winnipeg in Kanada miterlebt.
Der Fachmann: "Wir hatten rund 50 Fälle, die schwerst krank waren und wochenlang beatmet und in der Intensivstation untergebracht werden mussten. Wir haben in Winnipeg 75 Intensivbetten. In der ersten Woche kamen vier Influenza-Kranke auf die Intensivstation, in der zweiten acht neue, dann 17 und schließlich gar 37 in einer Woche. Wir waren besorgt und überlegten schon, Patienten auszufliegen. Drei Wochen stiegen die Zahlen an, dann gingen sie wieder herunter."
Es waren in Winnipeg nicht die sonst schon Mehrfach-Kranken und alten Menschen, die mit A(H1N1) lebensgefährlich erkrankten. Kumar: "Die Patienten waren jung, im Durchschnitt um die 40. Nur wenige waren über 55 Jahre alt, zwei Drittel davon Frauen. Und wenn man sie eine Woche vorher nach ihrem Gesundheitszustand gefragt hätte, hätten sie gesagt: 'Ich bin eigentlich gesund'."
Fieber, trockener Husten und Kurzatmigkeit, die Hälfte der Schwerkranken hatte auch Magen-Darm-Beschwerden, 15 Prozent sogar als erstes Symptom, kennzeichneten die Erkrankung aus. Der Experte: "Im Röntgen zeigten sich schwere Veränderungen der Lunge. In Gewebeproben unter dem Mikroskop ähneln sie ganz genau den Krankheitserscheinungen der Influenza-Pandemie von 1958 und jener von 1918 (Spanische Grippe, Anm.). Und die Patienten, die ich da gesehen habe, gehörten zu den kränksten Menschen, die ich je gesehen habe. Man braucht wochenlange Beatmung - mit modernen Methoden."
Kumar: "Es gibt da einen Widerspruch zwischen der Einschätzung der Experten für öffentliche Gesundheit und der Intensivmediziner." Während erstere darauf verwiesen, dass die meisten Erkrankungsfälle mild verliefen, seien die Intensivmediziner seither in Kanada äußerst besorgt über die Kapazitäten ihrer Stationen. Der Experte: "Das liegt daran, dass die Betroffenen bei uns jeweils rund dreieinhalb Wochen auf Intensivabteilungen versorgt werden mussten."
Der Fachmann weiter: "Es gibt Berechnungen, wonach bei einer derartigen Influenza bei einer durchschnittlichen Ausstattung einer Region mit neun Beatmungsmöglichkeiten auf Intensivstationen pro 100.000 Einwohner die Kapazitäten gleich für Wochen nicht ausreichen würde. Und wenn das der Fall ist, steigt die Mortalität wahrscheinlich sofort extrem an."
Was dagegen am besten zu tun wäre, so Kumar: "Wir brauchen möglichst früh eine Versorgung mit schützendem Impfstoff und wir sollten Patienten aggressiv mit antiviralen Medikamenten behandeln."
Unerwartete Entwicklung
Die "Neue Grippe"-Pandemie entwickelte sich anders als es die Expertenwelt erwartet hatte. "Wir müssen aus dieser Feuerprobe eine Menge lernen", erklärte der Chef der Pharmasparte von Roche, William Burns.
Burns: "Wir waren seit dem Jahr 2001 bemüht, der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und den einzelnen Staaten zu helfen, sich auf eine solche Pandemie vorzubereiten. So hatten wir längst schon fünf Millionen Packungen unseres Influenza-Medikaments 'Tamiflu' gespendet, um im Fall eines Ausbruchs einer solchen Erkrankung vorbereitet zu sein. Doch das war auf die Vogelgrippe H5N1 und für Asien ausgerichtet. Niemand erwartete den Ausbruch einer 'Schweinegrippe' in einem Ballungszentrum wie Mexico City und in einem Land, das eben nicht so gut vorbereitet war."
Bisher hatte die Welt laut dem Roche-Pharma-Chef allerdings noch ziemliches Glück: "Die gute Nachricht ist, dass der nun dominante A(H1N1)-Stamm nicht so schlimm ist, wie man das befürchtet hat. Aber wir müssen daraus lernen und auch Werkzeuge für den Fall entwickeln, dass die gegenwärtige Situation schlimmer wird. Und H5N1 könnte noch immer Probleme bereiten."
Insgesamt hat Roch in den vergangenen Jahren laut Catherine Steele, Stellvertretende Leiterin des Pandemie-Expertenteams des Unternehmens, zahlreiche Maßnahmen gesetzt, um Zugang und Versorgung mit dem antiviralen Medikament Tamiflu (Freiname: Oseltamivir) möglichst zu gewährleisten:
- Schon während der Pandemie-Phase 4 wurden für die WHO die Notfallreserven bereitgestellt
- Als es klar wurde, dass mit Phase 5 und Phase 6 ein Eindämmen der Pandemie nicht mehr möglich ist, wurden mit der WHO Maßnahmen für die Prioritäten der Versorgung mit Tamiflu abbesprochen.
- Für die ärmsten Länder der Welt gab Roche die Patentrechte auf Tamiflu frei.
- Für Entwicklungsländer gelten seit 2004 niedrigere Preise für das Medikament als in den den Industriestaaten.
- In China und Indien erhielten Pharma-Unternehmen Sublizenzen, es gab einen Wissenstransfer zur Tamiflu-Produktion in Südafrika.
- Die Produktionskapazitäten betrugen im Jahr bereits vier Mrd. Kapseln an dem Medikament, das macht die Behandlung von 400 Mio. Patienten möglich.
- Bisher haben 96 Staaten der Erde rund 270 Mio. Packungen auf Lager. In Österreich lagern antivirale Medikamente für rund 4,2 Mio. Patienten.
Österreich liegt übrigens mit einem Versorgungsgrad an Anti-Influenza-Medikamenten für rund 50 Prozent der Bevölkerung international an vierter Stelle. Nur Großbritannien hat mit einem Deckungsgrad von rund 80 Prozent deutlich mehr eingelagert.
Bei den staatlich eingelagerten Tamiflu-Vorräten setzt der Konzern auf eine enge Zusammenarbeit mit den einzelnen Ländern. Catherine Steele: "Wir haben für diese Vorräte in den USA und in einer Reihe von anderen Staaten die empfohlene Aufbrauchfrist von fünf auf sieben Jahre verlängert. Wir haben bereits eine Methode entwickelt, um den Wirkstoff auch aus Kapseln wiederzugewinnen und in neue Kapseln abzufüllen." Man sammle laufend Stabilitätsdaten zu den Vorräten, um möglichst optimale Entscheidungen über die Lagerfähigkeit zu ermöglichen."