Immer mehr Opfer

Kirche versinkt im Missbrauchs-Sumpf

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Immer mehr Betroffene haben den Mut, auszupacken. Die Zahl der Missbrauchs-Opfer wird immer größer. Die ersten Priester treten zurück.

Die katholische Kirche steckt in einer ihrer größten Krisen überhaupt: Täglich melden sich neue Opfer, die in katholischen Einrichtungen sexuell missbraucht wurden. Die Zahl der Betroffenen – die Vergehen liegen meist Jahrzehnte zurück – ist mittlerweile in erschreckende Höhen gestiegen. Ein Experte zu ÖSTERREICH: „Ich gehe von über 100 Fällen aus, weil sich Opfer bei unterschiedlichen Stellen melden können und es keine zentrale Erfassung gibt.“

Ombudsstellen: Doppelt so viele Fälle wie 2009
Wie tief der Missbrauchs-Sumpf wirklich ist, beweist die Zahl jener, die sich bei den Ombudsstellen der Erzdiözesen gemeldet haben. Österreichweit sind das seit Jahresbeginn bereits 30 Betroffene. Eine Rekordzahl, die doppelt so hoch ist wie jene im Vorjahr. 2009 gab es gerade einmal 17 Fälle.

Doch nicht alle wagen bei ihrem Geständnis den Weg zur Kirche. Die meisten suchen Hilfe bei Opferschutzeinrichtungen wie dem Weißen Ring oder den Kinderschutzzentren. Dort laufen dieser Tage die Telefone heiß. Durch die Macht der Kirche eingeschüchterte Opfer rufen an. Sie wollen nicht länger schweigen und packen aus.

Fest steht: Jetzt brechen alle Dämme. Anwältin Brigitte Forster-Ascher aus Salzburg vertritt das Opfer des Erzabts von St. Peter. Sie sagt gegenüber ÖSTERREICH. „Es ist wie ein Schneeball-Effekt. Je mehr Opfer sich melden, desto eher sind Einzelne bereit, über das Erlebte zu sprechen. Die Betroffenen sehen, dass sie nicht alleine dastehen.“

Experte: „Jetzt wird eine Lawine losgetreten“
Das sagt auch Peter Trattner vom Kinderschutz-Zentrum: „Jetzt wird eine Lawine losgetreten.“ Die Dunkelziffer aller Missbrauchten dürfte in die Tausend gehen. Wie viele den Mut haben, zu sprechen, ist schwer zu schätzen. „Mehrere Hundert Opfer sind möglich“, so Forster-Ascher

Der Ruf der Kirche ist jedenfalls schwer ramponiert. Nun meldet sich auch Kardinal Christoph Schönborn, Oberhaupt der Kirche, in einer Stellungnahme. Er sagt: „Es geht um Bekehrung. Es ist wichtig, die Opfer vor die Täter zu stellen. Wir müssen nach Ursachen forschen.“

Auch wenn die Wunden nicht zu heilen sind – gibt es erste Konsequenzen. Der 74-jährige nach Innsbruck versetzte Priester, der vor 30 Jahren Schüler missbraucht hatte, wurde beurlaubt. Jener steirische Geistliche, der 20 Kinder geschändet hat, legte am Mittwoch sein Amt nieder.

Ministerin Bandion-Ortner will „abwarten“

Bis Missbrauchs-­Opfer in der Lage sind, über das Erlebte zu sprechen und das auch zur Anzeige zu bringen, vergehen meistens Jahrzehnte. Dann kann das Delikt freilich schon verjährt sein – und der Täter bleibt straffrei. So sieht es jedenfalls die heimische Rechtssprechung vor.
„Bei strafbaren Sexualdelikten beginnt die Verjährung ab dem 28. Lebensalter des Opfers. Die Verjährungsfrist hängt von der Schwere und von der Folge der Tat ab – und dauert von fünf bis höchstens 20 Jahre“, erklärt eine Sprecherin von Justizministerin Claudia Bandion-Ortner. Soll heißen: Wird ein Kind im Alter von sieben Jahren von einem Priester missbraucht, beginnt die Verjährungsfrist erst im Alter von 28, also 21 Jahre später. Aber: Wird das Delikt als nicht „schwer“ eingestuft, endet die Verjährung schon fünf Jahre später. Der Priester kann danach nicht mehr vor ein Gericht gebracht werden.
Bandion: „Beobachten Lage“. Während in Deutschland eine Abschaffung der Verjährungsfristen diskutiert wird, will die heimische Justiz trotz des Skandals weiter abwarten.
„Wir beobachten die internationale Entwicklung. Im Moment gibt es keine konkreten Pläne, die Frist abzuschaffen oder zu verlängern. Der Nachdenkprozess hat begonnen. Nur wenn wirklich Bedarf besteht, kommt es zu einer Änderung“, so das Justiz-Ministerium.

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