Gesundheitssystem als undurchsichtiges Konglomerat

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Paternalistisch, sozusagen vom Eigennutz der Beteiligten bestimmt, spitallastig und viel zu wenig auf den Patienten ausgerichtet. Das ist das österreichische Gesundheitswesen laut dem Wiener Gesundheitsökonom Ernest Pichlbauer.

Er sollte sich am 4. September bei den Alpbacher Gesundheitsgesprächen in einem Vortrag mit dem Thema "Herausforderungen an die Gesundheitsreform" beschäftigten, war aber durch eine Erkrankung verhindert. "Aktuell besteht das österreichische Gesundheitssystem aus einem undurchsichtigen Konglomerat von Interessenverbänden und Institutionen, die ihre Aktivitäten zunehmend nur am eigenen Machterhalt ausrichten", erklärte der Experte jedenfalls aus Anlass der Veranstaltung.

Die herkömmlichen Ziele eines solidarischen Gesundheitssystems wären: "Zugangsgerechtigkeit, Verteilungsgerechtigkeit, gesicherte Versorgungsqualität, Patientensicherheit, Patientenzufriedenheit und Wirtschaftlichkeit", so der Experte.

"Es muss ständig Kompromisse geben"

Pichlbauer: "Ich behaupte, kein System der Welt schafft es, diese Ziele zu erreichen. Es muss ständig Kompromisse geben. Dort, aber, wo Kompromisse nötig sind, ist Politik nötig. Aber statt dass diese echte Kompromisse findet, verliert sie sich zunehmend in populistischen Entscheidungen. Dahinter steckt klar, dass der einzige Parameter, der für Wahlen wichtig ist, die Patientenzufriedenheit ist. Die Politik konzentriert sich nur mehr darauf, und nimmt diesen Parameter als isoliertes Ziel - herausgelöst aus dem ganzen Zielsystem."

Das treibe skurrile Blüten: Die wirklich am häufigsten zu versorgende Altersgruppe, die über 65-Jährigen würden in Umfragen nicht befragt. Oft kämen "an den Ostblock erinnernde Zustimmungswerte von jenseits der 95 Prozent" heraus. Das Ergebnis laut dem Experten: "Ich halte das alles für einen Missbrauch des Patienten zu taktischen Zwecken. Der Patient wird zur Schachfigur."

Man sollte laut Pichlbauer fragen, warum es ein Gesundheitssystem überhaupt gebe: "Dazu muss vorab klargestellt werden, dass Gesundheitsversorgung und Gesundheitssystem nicht gleichzusetzen sind. Versorgung ist das, was beim Patienten ankommt, das System ist hingegen der Rahmen, in dem Versorgung passiert. Der Schluss, dass ein System gut ist, wenn die Versorgung gut ist, ist ebenso ungültig, wie umgekehrt ein System nicht schlecht sein muss, wenn die Versorgung schlecht ist."

System nicht zum Erhalt der Krankenhäuser

Keinesfalls sollte es so sein: "Das System ist nicht dazu da, Krankenhäuser zu erhalten oder Ärzte zu ernähren. Es ist nicht dazu da, regionale Politiker oder Selbstverwaltungskörper glücklich zu machen oder Arbeitsplätze zu sichern. Es ist nicht dazu da, möglichst viele Behandlungen durchzuführen und futuristische Geräte aufzustellen."

Stattdessen gäbe es laut Pichlbauer eine einzige Rechtfertigung für ein Gesundheitssystem: "Nur, wenn ein System für den Patienten einen 'Mehrwert' erreichen kann, den er selbst nicht erreichen würde, ist ein Gesundheitssystem ethisch gerechtfertigt. "

Gelinge dieser Beweis, werde es immer genug Geld für das Gesundheitssystem geben. Doch, so der Gesundheitsökonom: "Ich behaupte, dass viele europäische Länder, allen voran Österreich, es nicht mehr schaffen, ihre Bevölkerung zu überzeugen, dass die Systeme jenen Mehrwert erzeugen, den sie vollmundig versprechen. Je paternalistischer, undemokratischer und intransparenter diese Überzeugungsarbeit geleistet wird, desto früher - unabhängig von der realen Höhe der Kosten und der Versorgungsqualität - wird die Finanzierungsfrage zum Problem. Wenn diese Überzeugung nicht gelingt, dann ist es klar, dass die Opting Out-Bestrebungen immer stärker werden."

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