Nach ihrer Befreiung berichtet Ingrid Betancourd über ihr "Alltagsleben" als Geisel und gesteht ein, an Selbstmord gedacht zu haben.
(c) GettyMit den Bildern aus der Gefangenschaft hat die vor wenigen Tagen aus der Hand kolumbianischer Rebellen befreite Geisel Ingrid Betancourt nur noch eines gemeinsam: Einen um das Handgelenk geschlungenen Rosenkranz, der auf den ersten Blick wie Modeschmuck aussieht. "Meine Kinder sagen mir schon: "Hör auf, ständig von Religion zu sprechen, sonst hält man Dich noch für eine Kröte im Weihwasserbecken" - Aber es stimmt, dass mein Glaube für mich meine größte Kraft geworden ist", sagte die 46-Jährige ehemalige Präsidentschaftskandidatin. "Im Dschungel gab es für mich nur Gott", fügte sie hinzu. Betancourts souveränes, strahlendes Auftreten nach all ihren schlimmen Erfahrungen hatte weltweit Bewunderung ausgelöst.
Die nächsten Wochen wil Betancourt in Frankreich verbringen. Sie werde nicht an einer für den 20. Juli in Bogota geplanten Demonstration zur Freilassung aller Geiseln teilnehmen, sagte Betancourt am Sonntag dem kolumbianischen Radiosender Caracol und fügte hinzu: "Ich habe Angst." Sie wolle aber an einer gleichzeitigen Kundgebung in Paris mitwirken.
Unbeschreibliche Erniedrigungen
Sie habe Erniedrigungen erlebt, über die sie nicht sprechen könne, sagt Betancourt. Stattdessen skizzierte sie in mehreren Interviews, die sie seit ihrer Befreiung geduldig gegeben hat, ihren Alltag als Geisel. "Der Dschungel ist eine feindliche Welt mit gefährlichen Tieren, aber die gefährlichsten waren die Menschen", sagt sie. Lange Zeiten ohne jede Beschäftigung im feuchtheißen Klima wechselten mit Gewaltmärschen von einem Lager der FARC-Rebellen zum anderen, oft barfuß. Betancourt besaß nur ihre Kleidung und eine Bibel, sie bat vergeblich um andere Lektüre. In den kalten Nächten deckte sie sich mit ihrer Jacke zu.
In den ersten drei Jahren war sie rund um die Uhr angekettet, später nur noch nachts. "Ich habe noch Narben am Schlüsselbein davon", sagt Betancourt. "Wenn die Aufpasser schlechter Laune waren, haben sie die Ketten so fest gezogen, dass ich nicht schlafen konnte." Morgens wurde sie um vier oder fünf Uhr geweckt, wenn sie zur Toilette musste, schauten die Bewacher zu und machten sich über sie lustig. Manchmal habe sie mit den FARC-Rebellen über Politik geredet. "Sie sagte ihnen offen ihre Meinung und wurde deswegen besonders schlecht behandelt", berichtete ein Mithäftling. In der ganzen Zeit habe sie jedoch nie geweint.
Lebenswille geschwunden
Mehrfach war Betancourt schwer krank. Ihr Lebenswille schwand, sie spielte mit dem Gedanken an Selbstmord. Zum Glück gab es William Perez, ein Mithäftling, der eine Ausbildung als Krankenpfleger hatte. "Als sie nicht mehr essen wollte, habe ich sie gefüttert. Ein Löffel für Melanie, ein Löffel für Lorenzo..." Der Gedanke an ihre Kinder habe sie immer wieder aufgerichtet. Die Geburtstage ihrer Kinder feierte sie jedes Jahr "im Herzen". "Ich habe für sie gesungen, und wenn ich meine Bohnen mit Reis zu essen bekam, stellte ich mir vor, es sei ein Geburtstagskuchen", erinnert sie sich.
Ob sie auch Opfer sexueller Gewalt geworden ist, ist nicht bekannt. "Die Anwesenheit einer Frau unter so vielen männlichen Gefangenen, die seit acht oder zehn Jahren in Haft sind, war natürlich ein Problem", sagt Betancourt, ohne weiter darauf einzugehen. Die kolumbianische Politikerin Carla Rojas, die 2002 mit Betancourt zusammen entführt und im Januar frei gelassen worden war, hatte in Gefangenschaft eine Beziehung zu einem der FARC-Rebellen begonnen und einen Sohn von ihm bekommen.
Regierungsprogramm entworfen
Betancourt hat ihre Zeit in der Gefangenschaft unter anderem dazu genutzt, ein Regierungsprogramm mit 190 Punkten für Kolumbien zu entwerfen. Noch ist es für sie viel zu früh, an die Nachfolge des kolumbianischen Präsidenten Álvaro Uribe zu denken, dem sie schließlich ihre Befreiung verdankt. Aber eines scheint klar: Sollte sie ihren von der Geiselhaft unterbrochenen Präsidentschaftswahlkampf je wieder aufnehmen, werden ihr Schicksal und ihr Charisma zahlreiche Stimmen bringen.